„Jeder strebte irgendwohin, eine solche Masse aus Erleichterung und Resignation am Ende eines Tages. Die Menschenmenge ein Symbol für die Menge der Tage, die jeder vor sich hatte: ‚Einer von vielen’, das war die Regel, die hinter allem stand.“ Ein Satz, der sinnverwandt auf Simmels Großstadtkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweisen könnte. Gleichwohl stammt dieses pessimistische Panorama großstädtischer Vereinzelung nicht aus dessen Munde. Eine Reliquie ist diese Ansicht jedoch keineswegs. Vielmehr findet er in Benjamin Markovits neuestem Roman „Manhattan Love Story“ eine unmittelbare Begebenheit.
Ja, im Zentrum steht ein allzu großes Manhattan, in dem gerade das einzelne Schicksal um seine Existenzberechtigung kämpfen muss, um nicht im unüberschaubaren Strudel der Geschehnisse unterzugehen. So könnte man glauben. Doch Markovits Episodenroman skizziert ein radikales Gegenmodell, welches statt der Masse den individuellen Charakter in den Vordergrund rückt. Dabei ist die Großstadt irgendwie immer vorhanden und doch nur szenischer Rahmen für einen lebendigen Interaktionskosmos. Also ein Großstadtroman, der eigentlich keiner ist, weil nicht die Entfremdung des Individuums, sondern dessen Integration in menschliche Beziehungsmuster nachgezeichnet wird.
Und darüber hinaus ist es ebenso wenig ein typischer Roman. Wo dieser einen kontinuierlichen Handlungsverlauf vermuten ließe, besteht Markovits’ „Love Story“ aus mehreren Kurzgeschichten, die weder beginnen noch ein abschließendes Ende zulassen. Sie sind Part eines großstädtischen Teilchenbeschleunigers, in dem Schicksale wild aufeinandertreffen. Nicht allein dem üblichen Verlorensein gilt die Aufmerksamkeit des Autors. Er setzt diesem die individuelle Liebes- und Gedankenpassion seiner Figuren gegenüber, die alle eine Gemeinsamkeit haben: Alle stehen in Beziehung zu einer einfachen, stereotypischen New Yorker Schule. Ob Lehrer oder Schüler – sie alle machen unterschiedlichste Erfahrungen in Fragen der Liebe.
Da ist die schüchterne Junglehrerin Amy, die nach langer Einsamkeit mit dem neureichen Charles Conway den sanften Blütenduft der Liebe zu erforschen beginnt, oder ihr Kollege Stuart, welcher, um der Monotonie der langjährigen Ehe zu entfliehen, sich auf sexuelle Gedankenaventiuren mit seiner Schülerin Rachel einlässt. In psychologischen Detailaufnahmen zeigt Markovits in nahezu filmischer Schreibweise die Vielschichtigkeit und Subtilität der alltäglichen Erfahrungswelt auf. Dass die Liebe verwirrt, der Existenz eine ganz eigene Erschüttertheit abverlangt, stellt die Figuren immer wieder auf die Probe, indem sie sie zur permanenten Selbstreflexion zwingt.
Es ist das spannende Moment, in dem die Außenwelt mit der inneren Gewohnheit kollidiert, das Markovits zum Gegenstand seines literarischen Kunstschnittes stilisiert. So gerät auch der Alltag des homosexuellen Lehrers Howard urplötzlich aus den geregelten Bahnen, als er von der Geliebten aus früherer Collegezeit von seiner indessen heranwachsenden Tochter erfährt. Aber auch der Tod von Rachels Vater lässt deren Welt mit ganzer Totalität aus den Fugen geraten. Was den sehr konstruiert wirkenden Hauptfiguren allesamt gleicht, ist der innere Konflikt. Sie unternehmen stets aufs Neue den Versuch, „diese Wüste aus Grausamkeit, Vernachlässigung, verarmten Gefühlen“ zu überwinden. Sie sind Weltenwandler, die zwischen innen und außen, Einsamkeit und Beziehung sowie Wunsch und Konvention umherirren, um nicht zuletzt ihre eigene Mitte, den individuellen Sinn irgendwann zu finden.
Manche leben zu lange in alten Erinnerungen oder sind unfähig, die Gegenwart wahrhaftig zu gestalten. Wo Howard am Ende einsieht, dass „er so lange und so versunken in seinen Erinnerungen gelebt [hatte], dass ihm allmählich Zweifel an ihrer Wahrheit gekommen waren“ und ihm die „Chance gegeben [wurde], aus seinem Leben etwas anderes zu machen“, zieht Stuart das innere Dasein als Refugium vor. „Bestimmt leben wir unser Leben in Büchern, dachte Stuart; allerdings hatte er für seinen Teil sich damit zufriedengegeben, kurz vor den Buchseiten stehen zu bleiben.“ Markovits Figuren sind allesamt auf ihre Art tragische Helden. Obwohl sie die Möglichkeit hätten, aus ihrer Lage auszubrechen, sind sie in zwischenweltlicher Gefangenschaft befindlich, ihr Befreiungsakt reicht kaum über den Status der Utopie hinaus.
Die Szenerie gleicht dabei einer cineastischen Frequentierung. Ein Bild hängt sich an das nächste Bild. Der Blick geht gleichzeitig bis ins tiefste Detail. Worin Markovits’ großes Talent zur Beschreibung deutlich wird, offenbart jedoch auch seine konzeptionelle Schwäche. Sätze wie „Sie ließ kleingeschnittene Kartoffeln in einen Topf mit kaltem Wasser fallen, eine nach der anderen, vertieft in den Rhythmus der gleichmäßigen Wiederholung, und beobachtete, wie sie fielen und wie das Wasser jedesmal aufspritzte“ zeugen einerseits von Beobachtungsverliebtheit; erweisen sich aber zugleich als destruktiver Quell für die Fragmentierung des Textzusammenhangs. Kaum befindet sich der Leser ganz im Handlungsgefüge, wird er durch teilweise überbordende Abschweifungsmanie vom eigentlichen Geschehen abgelenkt. So zerfällt der Text und entzieht sich langsam seiner Spannungsdramaturgie.
Doch nicht nur das. Zu viel Aufmerksamkeit für Nebensächlichkeit vereinzelt nicht nur zunehmend, sondern lässt den Realismus des Romans im Ganzen zu einer verzerrt-artifiziellen Figurenbühne verkommen. Die Kunst, ein Buch zu verfassen, das zugleich fast wie ein Film funktioniert, besteht immer darin, Illusionen aufrechtzuerhalten. Diesem Gebot ist der Autor, in dem ohne Zweifel ein unermessliches Potenzial zu liegen scheint, hier nicht gerecht geworden.
Darüber hinaus ist es nie falsch einzusehen, dass manchmal eine subtile Andeutung genügen kann, um die Imaginationskraft des Lesers zu animieren. Was bei Benjamin Markovits als Pseudosubtilität daherkommt, stellt sich als Inszenierung jeglicher Regung und Kleinigkeit dar. Nichts wird nur halb gesagt oder hat mehr die Berechtigung, geheim bleiben zu dürfen. Der Leser ist gezwungenermaßen in der misslichen Situation, sich keine eigene Vorstellung mehr machen zu können. Diese Radikalität der Offenlegung zerstört das innere Bild und hinterlässt eine unbefriedigende Leere.
„Manhattan Love Story“ ist ein romantischer Versuch, die heute vereinzelte Welt noch als Ganzes zu verstehen. Allerdings kann diese Ambition nicht über den stilistischen und kompositorischen Fehlgriff hinwegtäuschen. So kommt der Realismus in „Manhattan Love Story“ vollkommen abhanden. Die verschichteten Figuren sind letztlich nicht überzeugend, sie machen diese ursprünglich heiteren Liebesgeschichten zu einem faden Kunstroman.
Literaturangabe:
MARKOVITS, BENJAMIN: Manhattan Love Story. Roman. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009. 275 S., 19,80 Euro.
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