WIEN (BLK) – Martin Pollacks politische Reportagen erschienen unter dem Titel „Warum wurden die Stanislaws erschossen?“ im Februar 2008 im Wiener Zsolnay Verlag.
Klappentext: „Für mich begann der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa am 18. August 1980. Ja, genau an diesem Tag.“ Martin Pollack, einem damals nahezu unbekannten Reporter, der über die Streiks der Solidarnosc in der Danziger Leninwerft berichten wollte, wurde die Einreise nach Polen verweigert. Doch die bislang so selbstbewusst-arroganten Beamten am Flughafen von Warschau wirkten ganz anders als gewohnt, verunsichert, ja beinahe ängstlich. Irgendetwas war aus dem Gleichgewicht geraten. Für den vielfach ausgezeichneten Autor, Übersetzer und Reporter Martin Pollack waren es von Anfang an einzelne Erlebnisse und persönliche Begegnungen, die große Zusammenhänge und Entwicklungen besser verständlich machen. In seinen Reportagen versteht er es, ein vielgestaltiges Panorama des Übergangs zu schaffen – und ein Manifest gegen das Diktum vom Ende der Geschichte.
Martin Pollack wurde 1944 in Bad Hall, Oberösterreich, geboren. Studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte. Übersetzer u. a. von Ryszard Kapuscinski. Bis 1998 Redakteur des Spiegel in Wien und Warschau. 2007 erhielt er den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln. Bei Zsolnay sind erschienen: „Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann“ (2002), „Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater“ (2004) und „Von Minsk nach Manhattan. Polnische Reportagen“ (Herausgeber, 2006). (fri/wip)
Leseprobe:
© Zsolnay ©
Die Einsamkeit der Weißrussen
Nachrichten aus einem postsowjetischen Freilichtmuseum
Ein paar Tage nach den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland, bei denen, wie zu erwarten, der Diktator bestätigt wurde, erhielt ich einen Anruf aus Wilna. Im ersten Moment konnte ich den Anrufer nicht einordnen, die Verbindung war ziemlich schlecht, ich hatte den Namen nicht verstanden und registrierte bloß, dass er Polnisch sprach, mit hörbarem Akzent. Er spürte offenbar meine Ratlosigkeit und nannte den Ort, wo wir uns begegnet waren. Es war bei einem Übersetzertreffen gewesen.
Ein weißrussischer Dichter und Übersetzer polnischer Literatur, der in Wilna lebt, wo er bei einer dort erscheinenden weißrussischen Zeitschrift arbeitet und an der Universität unterrichtet. Ich sah ihn wieder vor mir. Ein mittelgroßer, unscheinbarer junger Mann in einem dieser schlecht sitzenden Anzüge von unmöglicher Farbe, wie sie nur im Ostblock hergestellt wurden. War es ein verwaschenes Veilchenblau oder ein gespiebenes Grün? Ich wusste nur mehr, dass er sich bei dem Treffen immer bescheiden im Hintergrund gehalten hatte.
Ich hatte seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Er entschuldigte sich, dass er mich so plötzlich telefonisch überfalle. Meine Nummer habe er von einem gemeinsamen polnischen Bekannten, eigentlich kenne er mich nicht näher. Aber es sei ihm wichtig, mit jemandem im Westen darüber zu sprechen. Und dann sprach er über die katastrophale Situation in seiner Heimat, über die Gefahr, dass die weißrussische Kultur in den nächsten paar Jahrzehnten zur Folklore degradiert werde und die weißrussische Sprache zu einem Dialekt, den nur mehr die alten Leute im Dorf sprechen. Er sprach von den Schikanen der Behörden gegen die weißrussische Intelligenz und von der Unmöglichkeit für einen Autor wie ihn, im eigenen Land zu publizieren. Und er sprach schließlich von der Schwäche der Opposition, die dazu führt, dass sich der Diktator rechtens auf die Unterstützung der Mehrheit berufen kann. Natürlich gab es bei den Wahlen Betrug, aber den hätte er gar nicht benötigt.
Seine Stimme war leise und ein wenig heiser, oder lag das an der Verbindung? Aus dem Hörer rauschte eine Litanei. Eine Aufzählung behördlicher Drohungen und Repressionen, willkürlicher Verbote und Zensurakte. Die kritischen Intellektuellen, die noch in Weißrussland ausharren, müssen in ständiger Angst leben, sagte er. Er sprach von „Todesschwadronen“, die auf Oppositionelle Jagd machen. Von denen hatte ich schon in polnischen Zeitungen gelesen (Polen ist eines der wenigen europäischen Länder, wo man ausführlich über die Zustände in Weißrussland berichtet). Dort wurden auch die Namen einiger Opfer genannt. Journalisten und oppositionelle Politiker.
Ist einer dieser Fälle aufgeklärt worden?, fragte ich. Er lachte über meine Naivität. Aufgeklärt? Vor ein paar Monaten sind zwei junge Staatsanwälte, die Angehörigen der „Todesschwadronen“ auf die Spur kamen, in die USA geflohen, weil sie um ihr Leben bangten. Die Büros unabhängiger Organisationen und Verlage werden regelmäßig von Einbrechern heimgesucht, die meist alle Computer, Drucker, Faxgeräte und Telefone mitnehmen. Manchmal dringen die Täter am helllichten Tag ein und demolieren die wertvollen Geräte, die unter weißrussischen Bedingungen nur schwer oder gar nicht zu ersetzen sind. Dass diese Diebstähle und Vandalenakte von Kriminellen verübt werden, glaubt in Weißrussland keiner. In einigen Fällen lagen die betroffenen Büros gleich neben Polizeistationen oder anderen gut bewachten öffentlichen Stellen.
Das alles zählte der Anrufer ganz nüchtern auf, ohne jede Erregung in der Stimme. Warum macht keiner etwas, fragte er dann, immer noch ruhig. Warum kümmert sich keiner um Weißrussland? Gehören wir nicht zu Europa? Warum lässt Europa, lässt alle Welt diesen Psychopathen gewähren?
Es entstand eine Pause. Ich glaubte für einen Moment, die Leitung sei unterbrochen. Es rauschte und knackte. Ich hatte die ganze Zeit nur ein paar Sätze gesagt, belangloses Zeug, hatte unbeholfen versucht, ihm Mut zuzusprechen, aber wie kann man einem Autor und Übersetzer Mut zusprechen, dessen Sprache, eine europäische Sprache, die von Millionen Menschen gesprochen wird, eine Sprache mit einer beachtlichen Literatur (auch wenn sie bei uns völlig unbekannt ist), zu verschwinden droht, oder vielmehr: droht, ausgemerzt zu werden, denn dieses Verschwinden ist kein natürlicher Prozess, sondern wird absichtlich herbeigeführt, und zwar nicht von feindlichen Mächten, sondern vom Staatschef und den Behörden Weißrusslands selber.
Dann hörte ich wieder seine Stimme. Noch leiser, noch heiserer als vorher. Er entschuldigte sich erneut für den Anruf. Das ist alles so absurd, sagte er schließlich, dann legte er auf.
Ich kann die Verzweiflung meines Bekannten verstehen. Weißrussland ist tatsächlich ein absurder Fall, wie aus einem politischen Alptraum. Es ist ein stalinistisches Freilichtmuseum, ein postsowjetisches Reservat, in dem sich aller Schrott sammelt, der vom zusammengebrochenen sowjetischen System übrig ist, Menschen und Institutionen. Obwohl nach allgemeinen Schätzungen rund 78 Prozent der zehn Millionen Einwohner Weißrussen sind, dominieren die russische Sprache und Kultur auf allen Gebieten. Nur etwa zwanzig Prozent der Kinder besuchen weißrussische Schulen, Tendenz rückläufig. Kinder, die schlecht Russisch können, gelten als zurückgeblieben – und ab in die Sonderschule. Es gibt in Weißrussland keine Universität, an der in weißrussischer Sprache unterrichtet wird, an ein Institut für weißrussische Philologie gar nicht zu denken. Ein solches gibt es an der Universität Wilna in Litauen, in Polen gibt es gleich vier (in Russland kein einziges!).
Der Diktator will das Land total russifizieren und jedes nationale Bewusstsein tilgen, was nicht einmal den Zaren oder Stalin gelungen ist, der in den dreißiger Jahren Hunderttausende Weißrussen, voran die Intelligenz, ermorden ließ. Und das alles, weil Lukaschenko in seinem Größenwahn davon träumt, als Führer einer neuen Sowjetunion in den Kreml einzuziehen. Aber vorher möchte er, ein kleines Einstandsgeschenk, aus der Bevölkerung seines Landes hundertprozentige Russen machen.
Was daran so absurd ist: Die Mehrheit der Bevölkerung scheint gar nichts dagegen zu haben. Nur etwa zehn Prozent fühlen sich bewusst als Weißrussen und sind bestrebt, ihre Sprache und Kultur zu erhalten, schätzt der bekannteste weißrussische Schriftsteller, Vasyl Bykau, der seit einigen Jahren im Ausland lebt, weil er zu Hause nicht mehr veröffentlichen kann. Die politische Opposition ist schwach und zerstritten. Eine reale Hoffnung ist vielleicht die neue oppositionelle Jugendbewegung namens „Zubr“ (Bison), die vor den Wahlen in Demonstrationen und politischen Happenings gegen die Diktatur protestierte. Die Polizei nahm in Minsk und anderen Städten Jugendliche in schwarzen T-Shirts fest, auf denen das Logo der Bewegung, ein Bison, und die Aufschrift „Sag zu dem Trottel – Nein!“ prangten. Wie sie auf den Gedanken kämen, das sei gegen den Präsidenten gerichtet, fragten die Jugendlichen die Ordnungshüter. Die Bewegung vergleicht sich selber mit der serbischen „Otpor“-Bewegung, ohne allerdings auch nur annähernd deren Stärke zu erreichen.
Nach dem Gespräch mit meinem weißrussischen Freund suchte ich die Mappe mit Zeitungsauschnitten über das Land heraus. Sie ist dünn, die meisten Ausschnitte sind aus polnischen Zeitungen. In einer ist ein offener Brief von Stefan Bratkowski abgedruckt, einem der bekanntesten Journalisten des Landes, gerichtet an die Botschafter von zwanzig reichen Ländern in Warschau. Auch der österreichische Botschafter ist darunter. Der Brief stammt vom April 1997. Bratkowski macht dort den Vorschlag, der weißrussischen Kultur nachhaltig zu helfen, indem jedes dieser Länder in den nächsten fünfzehn Jahren die Übersetzung einiger der wichtigsten Werke seiner Literatur ins Weißrussische und deren Druck finanziert. Zu diesem Zweck sollte jedes Land einen oder mehrere junge weißrussische Übersetzer einladen und ausbilden.
Ich weiß nicht, was man in der österreichischen Botschaft in Warschau mit dem Brief gemacht hat. Vielleicht sind ja die österreichischen Beamten noch einen Schritt weiter gegangen, und im Außenministerium arbeitet man seither fieberhaft an einem Projekt, um umgekehrt auch hierzulande Übersetzer für die weißrussische Sprache auszubilden? Oder ist es naiv, an Trottelhaftigkeit grenzend, sich so etwas auch nur vorzustellen? (2001)
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Literaturangaben:
POLLACK, MARTIN: Warum wurden die Stanislaws erschossen? Reportagen. Zsolnay, Wien 2008. 232 S., 19,90 €.
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