Von Susanne Schmetkamp
Darf man einen einzelnen Menschen töten, wenn dadurch Millionen andere gerettet werden? Dies ist eine der schwierigen Fragen unserer Zeit, sobald es um die Rechtfertigung von Gewalt zur Beendigung anderer Gewalt geht. Auch der Protagonist in Paul Austers neuem Roman „Mann im Dunkel“ stellt diese Frage indirekt, indem er sich die Geschichte eines Helden ausdenkt, der genau dies tun soll: einen Mann töten, um einen Bürgerkrieg zu beenden. So werden, wie oft bei Auster, mehrere Geschichten ineinander verschachtelt. Doch selten hat sich der inzwischen 60 Jahre alte New Yorker Autor („Buch der Illusionen“, „Brooklyn Revue“) dabei so gegenwartsnah und politisch geäußert.
Ich-Erzähler des Ganzen und Hauptfigur ist der 72 Jahre alte Literaturkritiker August Brill. Er liegt bewegungsunfähig im Bett im Haus seiner Tochter, Körper und Geist durch einen Autounfall sowie durch den Krebstod seiner Frau von Schmerzen gemartert. Überhaupt befindet er sich in einem Umfeld der Trauer und „gebrochenen Herzen“: seine Tochter Miriam wurde von ihrem Mann verlassen, seine Enkelin Katya hat den tragischen Tod ihres Freundes Titus zu verarbeiten. Was genau da geschehen ist, erfährt man erst kurz vor Ende der Erzählung, dort jedoch mit solcher Wucht, dass alles andere dagegen wie eine Vorbereitung auf den eigentlichen, grausamen Moment erscheint.
Zunächst aber zur Geschichte in der Geschichte: Der vor Sorgen schlaflose Brill denkt sich, um sich abzulenken, nachts Geschichten aus. „Allein im Dunkel wälze ich die Welt in meinem Kopf, durchlebe den nächsten Kampf mit meiner Schlaflosigkeit“, so leitet Auster in seiner gewohnten Sprachkunst den Roman ein. Nun erzählt der Protagonist Brill sich und dem Leser die Geschichte des 30 Jahre alten Zauberkünstlers Owen Brick, der eines Tages in einem dunklen Loch aufwacht, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen ist. Ein uniformierter Mann befreit ihn und redet ihn als „Corporel“ an. Wie sich herausstellt, befinden sie sich zwar im Jahre 2007 und in Amerika. Aber weder hat es „9/11“ je gegeben noch den Irak-Krieg.
Stattdessen tobt seit vier Jahren ein inneramerikanischer Bürgerkrieg: 16 Bundesstaaten, so findet Brick nach und nach heraus, haben sich aus Protest gegen eine betrügerische Wahl im Jahr 2000, bei der George W. Bush als Sieger hervorging, separiert. Sie bilden die „unabhängigen Staaten von Amerika“ und liefern sich einen harten Sezessionskrieg mit den republikanischen Staaten. Inzwischen gibt es 13 Millionen Tote. „Und du bist der Trottel, den sie für den großen Job ausgesucht haben“, erfährt Brick. Der harmlose Zauberer soll den Mann töten, der sich diese ganze Sache ausgedacht hat: einen 72- jährigen Mann, einen Literaturkritiker.
Verwirrt? Auster - selbst ein Zauberer der Sprache und Bilder - spielt stets grandios mit Fiktionen, Illusionen, Parallelwelten. Mit der Bürgerkriegsgeschichte illustriert er nun jene Welt, die es vielleicht gegeben hätte, wäre alles anders gekommen als es tatsächlich war. Es ist eine Möglichkeit, die Vergangenheit und Gegenwart Amerikas zu verarbeiten, und man merkt hier, wie sehr die Folgen des World-Trade-Center-Angriffs immer noch in den Köpfen der Amerikaner herrschen. Es ist die Geschichte des Wunsches nach Erlösung - auch von dem „Erzähler des Krieges“, wie es im Roman heißt, und man muss nicht lange raten, um zu wissen, wen diese Bezeichnung meint.
Keine der beiden Welten, weder die ausgedachte noch die reale, ist wünschenswert. „Und die wunderliche Welt dreht sich weiter“, lautet die Quintessenz des Erzählers, dessen Ton zwischen resigniert bis hoffnungsvoll schwingt. „Mann im Dunkel“, in dem auf gerade einmal 220 Seiten die ganz großen Themen wie Krieg, Liebe, Selbstlüge, Tod, Alter und der Sinn des Lebens verhandelt werden, ist ein spannender, komplexer, ergreifender, origineller, gewaltiger und trauriger Roman. Vor allem aber ist er ungewöhnlich politisch und grausam - die Schilderung des Todes von Katyas Freund nimmt einem den Atem. Und damit ist es auch ein neuer großer Wurf des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster.
Literaturangaben:
AUSTER, PAUL: Mann im Dunkel. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008. 224 S., 17,90 €.
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