Von Johannes von der Gathen
Vögel können etwas Unheimliches an sich haben, zumal wenn sie uns ausgestopft aus den Vitrinen einer naturkundlichen Sammlung anblicken. Aber vielleicht geht die Beunruhigung gar nicht von der zur Schau gestellten Kreatur aus, sondern liegt im menschlichen Betrachter und seinen Vorurteilen verborgen. Auf diese Idee kann man kommen, wenn man Marcel Beyers klugen Ornithologenroman „Kaltenburg“ gelesen hat.
Der 1965 in Westdeutschland geborene, seit 1996 in Dresden lebende Autor, der bereits mit seinen Romanen „Flughunde“ (1995) und „Spione“ (2000) das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Geschichte ausgelotet hat, erzählt die Biografie des fiktiven Zoologieprofessors und leidenschaftlichen Tierfreundes Ludwig Kaltenburg, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Dresden sein Institut aufbaut, Anfang der 60er Jahre die DDR verlässt und 1989 in Österreich stirbt.
Aber alles, was wir über diesen charismatischen Forscher wissen, erfahren wir von dem Ich-Erzähler Hermann Funk, einem Schüler und Vertrauten Kaltenburgs. Funk verliert als Elfjähriger bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 seine Eltern, und Kaltenburg, ein Bekannter der Familie seit Hermanns Kindertagen, wird zu einer Art Ersatzvater. Aber dieser merkwürdige Erzähler, der sich in der Gegenwart in Gesprächen mit einer Dolmetscherin an Kaltenburg erinnert, ist keineswegs eine objektive Instanz.
Im krassen Gegensatz zu Jonathan Littells skandalumwitterten Breitwand-Roman „Die Wohlgesinnten“, der mit grellen Effekten die Leser schockiert, reflektiert Beyer die Schwierigkeiten historischen Erzählens. So macht er seinen klug gebauten Roman immun gegen schnelle Vereinnahmungen, arbeitet dezent mit Anspielungen, kultiviert eine Art „verdecktes Erzählen“. Dabei ist der Text sehr gut lesbar, weil immer am konkreten Detail festgemacht. Wir erfahren sehr viel über Mauersegler, Riesenalke, Dohlen und Nachtreiher.
Im ersten Teil gibt es eine scheinbar unschuldige, fast idyllische Szene am Bahndamm. Funk ist noch ein Kind, er sammelt mit seinem Vater seltene Gräser. „Und oben auf dem Damm die langsamen Züge, aus ein paar Personen- und unzähligen Viehwaggons zusammengestellt, in denen sich die Tiere niemals rühren, wohin fahren die, will ich von meinem Vater wissen. Nach Osten – oder kennst du die Himmelsrichtungen nicht.“
Hier tun sich die Abgründe deutscher Geschichte auf, erst der Nationalsozialismus, dann die stalinistischen Verfolgungen in der DDR, auch an den sowjetischen Antisemitismus erinnert Beyer. Dabei lässt sich die Hauptfigur kaum fassen. Kaltenburg ist einerseits der unpolitische Zoologe, der mit unzähligen Tieren das Haus teilt, eine fast putzige, liebenswerte Figur: „Er hob den Deckel von der Teekanne, als wolle er vorsichtig prüfen, ob sich ein Kleintier darin eingenistet hätte.“ Andererseits agiert er als aalglatter Opportunist, der sich mit jeder Diktatur auf seine Art arrangiert.
Eine unheimliche, frostige Atmosphäre zieht sich wie ein schnurgerader Vogelflug durch diesen Roman, und nur Hermanns Funks Ehefrau Klara, die seit ihrer Jugend von Marcel Prousts Riesenroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fasziniert ist, erscheint als Gegenfigur zu den Karrieristen jedweder Couleur. Sie hegt Zweifel an der Selbstgewissheit jeder Lebenserinnerung, „als könnten die Erinnerungen Halt bieten, wo doch im Gegenteil die Rückschau uns zutiefst erschüttern, unser jetziges Leben aus den Fugen geraten lassen müsste“.
Literaturangaben:
BEYER, MARCEL: Kaltenburg. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 19,90 €.
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