Von Marco Gerhards
Zur Zeit des Barock, im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert, war es in pulsierenden Städten wie Paris oder Mailand ein Zeichen besonders elitärer Gewohnheit, die Parterre adliger Behausungen mehrere Stufen über dem Erdboden anzusetzen. So sah und spürte das niedere Volk, dass es hier in höhere Kreise aufzusteigen hatte. Das Äußere entsprach dem Inneren, das Materielle dem Sozialen. Das Architektonische wurde just zu jener Zeit, nicht nur im Rahmen dieser kleinen Randnotiz, zum Gesamtkunstwerk, zur rhythmischen Variation gleicher und grundlegender Motive. Weitere Charakteristika des Zeitalters Michelangelos, der jene Stilperiode prägend einleitete, finden sich in den „Meilensteinen der Architektur“ von Renate Kastorff-Viehmann - einem Werk, das sich leider der synthetischen Verkausalisierung der Architektur momentaner Zeitgeschichte anpasst. Auf dem Cover dieses Buches könnte man den Kölner Dom, gerne auch das Empire State Building erwarten, stattdessen aber ruhen Dreieck, Quadrat und Kreis mit sanften Schattierungen auf matt-blauem Untergrund. Das ist modern, künstlich und irgendwie ganz weit weg von dem, was für Opa noch ein „echtes Haus“ war.
Die Autorin ist Professorin für Baugeschichte mit den Schwerpunkten Stadt- und Dorfplanung, Architektur und Denkmalpflege und doziert an der Fachhochschule in Dortmund wahrscheinlich ebenso souverän, fundiert und langweilig wie in den Kapiteln dieses Buches. Eine absolute Expertin ohne jede Frage, der allerdings Verve, sprachlicher Schmiss und lebendige Vermittlung, zumindest in diesen Zeilen, abhanden gekommen sind. Das grundlegende Dilemma akademischer Literatur wird hier exemplarisch vorgeführt: Sie informiert, unterhält dabei aber nicht. Gegenbeispiele gibt es allerdings auch: C.G. Jung als Psychologe, Baraville als Pyhsiker, Beutelspacher als Mathematiker – so kann es wissenschaftlich auch funktionieren und deswegen ist Kritik an schlechten Alternativen durchaus angebracht und notwendig.
Die erste Seite des Buches verrät gleich, dass 94 Abbildungen auf die interessierten Leser warten. Bei über 500 Seiten wahrlich eine recht kleine Auswahl an Bildern, die doch eigentlich das architektonische am besten repräsentieren könnten, oder nicht? Das darf vorweggenommen werden: Sie wollen es nicht; vielmehr handelt es sich um einen sehr nüchternen, grundsoliden, wissenschaftlich profunden Bericht über das, was der Untertitel verspricht – also Personen, Bauten und Epochen. Mit einer sauberen Einleitung, die jede Doktorarbeit benötigt, mit einer übersichtlichen Struktur und mit ganz viel Text und Schrift und wenig Anschauungsmaterial. Ist das vielleicht auch der Grund, warum Gebäude seit vierzig Jahren so furchtbar aussehen? Weil das alles erdacht und nicht erschaut wird?
Der Inhalt läuft runter wie Butter: Romanik, Gotik, Renaissance und so weiter. Das klassische Repertoire an Zeitdemarkationen mit den entsprechenden Protagonisten wie Speyerer Dom (Romanik) oder Notre Dame (Gotik). Die Bauwerke und die Epochen werden historisch sauber arrangiert und vorgestellt, es gibt Hintergrundinformationen zu Baumeistern und politischen oder wirtschaftlichen Verflechtungen. Besonders schön sind kleine Merkkästchen, in denen die wichtigsten Ergebnisse zu bestimmten Ereignissen prägnant zusammengefasst und dargestellt werden.
Je länger das Buch dauert, umso mehr kommen die Architekten selbst ins Spiel, ganz einfach deshalb, weil man über jene Menschen der jüngeren Vergangenheit mehr weiß als den Erschaffer des Doms zu Köln. Gottfried Semper, Karl Friedrich Schinkel oder Frank Lloyd Wright sind nur einige der wichtigsten, die hier versammelt sind. Auch hier wieder: prägnant, solide, übersichtlich und gut strukturiert. Die Frau Professorin ist eine Fachfrau ersten Ranges, das merkt man auf jeder Seite, und wer sich für Architektur interessiert, vielleicht sogar interessieren muss (Studenten, seid wachsam!), dem sei das vorliegende Buch empfohlen, denn das ist absolute Topreferenz. Historiker mögen manchmal aufstöhnen (Frau Kastorff-Viehmann spricht wie Ranke vor fast 200 Jahren vom „dunklen Mittelalter“), aber das ist ja auch nicht ihr Metier, von daher sei es verziehen, wenn auch widerwillig.
Viel trauriger ist eigentlich nur das, was bereits eingangs erwähnt wurde. Es fehlt die plastische, visuelle und formgebende Auflösung des Gesagten. Wie einfach und hilfreich wäre es denn, diese unzähligen Stilrichtungen an entsprechenden Bildern zu belegen. Die paar Grundrisse (alles Zeichnungen), die sich hier finden, helfen jedenfalls nur bedingt weiter.
Fazit: Akademiker und solche, die es werden wollen – zugreifen! Bauhistoriker, die die Seele eines Gebäudes begreifen wollen, gehen lieber raus und gucken sich Gründerzeithäuser an und staunen über Stuck, Erker und kleine Türmchen und lassen moderne „Karnickelbauten“ aus dem Gesichtsfeld gleiten. Wer noch Zeit und Lust übrig hat, nimmt derlei Bücher wie dieses hier und baut aus ihnen kreative Alternativen. Es ist die vielleicht beste Verwendung für Menschen mit Geschmack.
Literaturangabe:
KASTORFF-VIEHMANN, RENATE: Meilensteine der Architektur. Baugeschichte nach Personen, Bauten und Epochen. Kröner Verlag, Stuttgart 2010. 589 S., 26,90 €.
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