Anna Sewells 1877 erschienenes Buch „Black Beauty. The Autobiography of a Horse” setzte den Anfang. Es erzählt aus der Perspektive des titelgebenden schwarzen Hengstes, dessen leid- und wechselvolle Lebensgeschichte und lenkte den Blick der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Not misshandelter Pferde. Sechzehn Jahre später sensibilisierte „Beautiful Joe“ das Bewusstsein der Menschen für das Elend gequälter Hunde. Margaret Marshall Saunders, 1861 in Nova Scotia/Kanada als Tochter eines Baptisten-Pfarrers geboren, gab einer „stummen Kreatur“ ihre Stimme und ließ einen Mischlingshund seine Geschichte erzählen, eine berührende und zu Herzen gehende Geschichte von Leiden und Erlösung.
Sewills „Black Beauty“, das nicht nur das Leid der Arbeits- und Kutschpferde thematisiert, sondern auch die desaströsen sozialen Lebensumstände seiner Zeit anprangert, wurde zu einem der bekanntesten Jugendbücher des 20. Jahrhunderts, es wurde mehrfach verfilmt und eroberte in den 1970er-Jahren als Fernsehserie die Bildschirme. Der Erfolg von „Beautiful Joe“ gestaltet sich nicht minder eindrucksvoll: Unter ihrem Zweitnamen Marshall Saunders nahm die Autorin an einem Literaturwettbewerb der American Humane Education Society teil. „Beautiful Joe“ gewann den ersten Preis und wurde 1893 veröffentlicht. Es avancierte zum Bestseller, zum ersten Buch in Kanada, von dem über eine Million Exemplare verkauft wurden. In den 1930ern schnellten die Verkaufszahlen auf weltweit über sieben Millionen, zahlreiche Neuauflagen folgten.
Beautiful Joe ist nicht schön, er ist nur ein Bastard, teils Fox-, teils Bullterrier, ein Hund mittlerer Größe mit braunem Fell, der im Stall eines charakterlosen „Milchmanns“ geboren wurde und dort die ersten Monate seines Lebens geschunden, getreten und gequält wird. Nachdem der tierquälerische Milchmann Jenkins seine Geschwisterwelpen vor den Augen seiner Mutter Jess umgebracht hat und diese vor Schwäche und Qual stirbt, stürzt sich Joe auf den grausamen Peiniger. Dieser packt den kleinen voller Wut, hackt dem Welpen mit einem Beil den Schwanz und ein Ohr ab und will ihn erschlagen. Nur das mutige und entschlossene Eingreifen eines zufällig vorbeikommenden Jungen rettet den Hund vor dem sicheren Tod. Joe findet in der jungen Laura Morris eine liebevolle Herrin, viele neue Freunde und ein behagliches Heim auf dem Anwesen der Familie Morris.
Was Joe hier berichtet, hat sich wirklich zugetragen. Margaret Marshall Saunders hörte 1892 von seiner Geschichte bei einem Besuch ihres Bruders in Meaford, Ontario. Walter Moore, der Vater ihrer Schwägerin Louise, hatte durch sein beherztes Eingreifen einem Welpen, der schwer misshandelt wurde, das Leben gerettet, ihn gesund gepflegt und seitdem in seiner Familie untergebracht. Saunders verlegte die Geschichte Joes in eine Kleinstadt in Maine, änderte den Familiennamen in Morris und erzählte die Geschichte aus der Perspektive des Tieres. Der Bezug zu „Black Beauty“ ist offensichtlich und gewollt. Auf den ersten Seiten seiner als Co-Autor verfassten Autobiografie berichtet Joe: „Einmal las meine Herrin ein Buch, das sie zum Lachen brachte und zu Tränen rührte, und manchmal hielt sie mir das Buch vor die Schnauze, damit ich die Bilder betrachten konnte. Es sei die Lebensgeschichte eines Pferdes, erklärte sie mir damals.“
„Öffne deinen Mund für die Stummen“ hieß Margaret M. Saunders Verpflichtung und sie lässt Laura, Joes neue junge Herrin, sagen: „Jedes Kind hat eine Stimme, mit der es berichten kann, was ihm widerfahren ist, aber ein Tier muss stumm leiden.“ Den Tieren eine Stimme geben, sie vom Stigma des „dumb“ (= stumm, sprachlos, aber auch dumm) zu befreien, bedarf es einer anderen Sichtweise, die des fühlenden, zu Wohlbehagen und Schmerz fähigen Mitgeschöpfs. Durch Beautiful Joe lernen wir nicht nur die Sicht eines liebenswerten Hundes kennen, sondern auch seine Mitgefährten, den alten Jagdhund Jim, den Foxterrier Billy, die Katze Malta, Bella, die Papageiendame, Goldfische, Kanarienvögel, ein zahmes Eichhörnchen und allerlei Farmtiere, Pferde, Hühner, Gänse. „Beautiful Joe“ berichtet von ihren Geschichten, vom Engagement der Morris-Familie und den Treffen des Gnadenbunds (Band of Mercy), einer US-amerikanischen Tierschutzbewegung des 19. Jahrhunderts, die vor allen Dingen von Jugendlichen und Kindern getragen wurde, sowie vom beispielhaften Leben auf der Dingley-Farm.
Es sind kleine, bezaubernde, aber auch nachdenkliche Geschichten über das Zusammenleben von Mensch und Tier, die auch nach 116 Jahren nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren haben. Saunders Buch war ein Pionierwerk, ein Buch, das ein Meilenstein wurde für den Tierschutz und dazu beitrug, den Tierschutzgedanken zu verbreiten, das den „stummen Kreaturen“ eine Sprache gab. Und das, wie auch schon Anna Sewell in „Black Beauty“, auf die zugrunde liegende psychosoziale Dimension verweist: „Wenn er [der Milchmann] grausam genug ist, sein Tier zu misshandeln, dann wird er auch seine Frau und seine Kinder misshandeln“, weiß Miss Laura und überzeugt ihren Cousin Harry, Jenkins anzuzeigen. Der Tierquäler wurde zur Zahlung von zehn Dollar verurteilt, so liest sie es einige Tage später in der Zeitung. „Was sagst du dazu, Joe? Fünf Dollar pro Ohr und der Schwanz umsonst. Mehr bist in den Augen des Gesetzes nicht wert.“
Dass Jenkins später doch noch für 10 Jahre ins Gefängnis muss, Beautiful Joe maßgeblich dazu beiträgt, seinen früheren Peiniger hinter Schloss und Riegel zu bringen, und so seine Dankbarkeit gegenüber Laura und der Morris-Familie tatkräftig unter Beweis stellt, wir freuen uns – noch mehr natürlich darüber, dass der zeitlose Klassiker „Beautiful Joe“ jetzt auch in einer deutschen Ausgabe in der beachtenswerten „edition tieger“ des Berliner Autorenhaus Verlages vertreten ist.
Literaturangaben:
SAUNDERS, MARGARET MARSHALL: Beautiful Joe. Der Hund, der die Menschen veränderte. Deutsch von Kerstin Winter. Autorenhaus Verlag, Berlin 2008. 208 S., 14,90 €.
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