Emil Nolde ist der Maler des Nordens. Aufgewachsen in der norddeutschen Küstenlandschaft zwischen Nord- und Ostsee, ist er zwar oft genug aufgebrochen in ferne Gegenden, aber immer zog es ihn zurück in seine heimatliche Landschaft, in der er zu seinem unverwechselbaren Stil finden sollte. Das weite, flache, einsame Land zwischen den Meeren, der hohe Himmel und die ewig bewegte See, Symbol unbezähmbarer Naturgewalt, die zyklischen Rhythmen der Natur, Gezeiten und Jahreszeiten, das Hintergründige und das Legendäre dieser nordischen Schicksalswelt haben in seinen Bildern stets die bestimmende Rolle gespielt. Es genügte „eine vage Vorstellung nur in Glut und Farbe“, so Nolde, um den Bilderstrom seiner Phantasie auszulösen. Die Erregung, die ihn vor der Natur erfasste, äußerte sich als Ekstase. „Die Skala der Farben und eine leere Leinwand waren mir wie ein Kampf gegeneinander“. Den Anforderungen des drängenden Bilderstroms wurde der Pinsel nicht mehr gerecht. Mit Fingern, dem Handballen, Papp- oder Lederstücken hat er die Farbe pastos aufgetragen, deren Leuchtkraft expressiv gesteigert ist.
Die Kunsthalle Bielefeld widmet sich (bis 12. Mai 2008) erstmals Noldes Selbstverständnis als „nordischer Künstler“ und stellt mit 57 Gemälden und 65 Papierarbeiten dessen tiefes Erleben der heimatlichen Landschaft, ihrer Menschen, ihrer Spuk- und Sagengestalten, der Ostsee in ihren wechselnden Stimmungen vor. Von der impressionistischen, lichtsprühenden Malweise wird Noldes Weg zur Befreiung der Farbe und zur expressiven Geste verfolgt. Der von der Kuratorin der Ausstellung Jutta Hülsewig-Johnen herausgegebene Katalog untergliedert nach einem einleitenden Text der Kuratorin über Emil Nolde und die Romantik des Nordens das ausgestellte Werk in die Themenbereiche „Die Landschaft“, „Am Meer“, „Bildnis und Groteske“ beziehungsweise „Fantastische Gestalten“ und stellt ihnen jeweils Texte der Kuratorin über Nolde und die Romantik des Nordens, von Manfred Reuther, dem Direktor der Nolde Stiftung Seebüll, über Nolde und Dänemark und von Andreas Fluck, Konservator der Nolde Stiftung, über Noldes grotesk-phantastische Bilder voran.
Noch auf der Ostseeinsel Alsen, die Nolde mit seiner Frau Ada von 1903 bis 1916 bewohnte, sind Blumen- und Gartenbilder entstanden. „Ich liebte die Blumen in ihrem Schicksal emporsprießend, blühend, leuchtend, glühend, beglückend, sich neigend, verwelkend, verworfen in der Grube endend. Nicht immer ist ein Menschenschicksal ebenso folgerichtig und schön…“. Er begann sich hier mit der Farbe auseinanderzusetzen, mit ihrer physischen Präsenz, ihrer Ausdruckskraft und emotionalen Ausstrahlung. Das leuchtende, mitunter glühende Kolorit der Blumen im Sonnenlicht führte zur expressiven Steigerung und gab ihm den entscheidenden Impuls, das Eigenleben der Farbe für sich neu zu entdecken. Farbe wird hier als emotionsgeladene Materie erlebt.
In Ruttebüll, einem kleinen Dorf an der Westküste, unweit seines späteren Wohnsitzes Seebüll, auf dem er dann von 1926 bis zu seinem Tode leben sollte, entstanden 1909 Bilder der friesischen Landschaft: Darstellungen der Marsch mit ihren Sielzügen, ihrem hohen Himmel, breit gelagerten Bauernhöfen, den Tieren auf den Fennen. Während eines Hamburg-Aufenthaltes im gleichen Jahr hat er Dampfer, Schlepper oder Barkassen auf der Elbe mit ihren schwarzen, von Sturmwind verwehten Rauchwolken und dem aufschäumenden Kielwasser unter dem Bug festgehalten. Sie bringen die Betriebsamkeit und die Hektik des Hafenlebens zum Ausdruck. In dem Bild „Qualmende Dampfer“ (1910) entsteht aus quirlenden Pinselbewegungen, die die Dynamik der Wellen bis in den Horizont weiterführen, die Rauchfahne eines Schleppers. Äußerste Spannung wird hier als eine magische Fläche beschworen und die farbliche Qualität bis an die Grenzen des Möglichen gesteigert.
1910/11 schuf Nolde eine Folge von Bildern, die er „Herbstmeere“ nannte und die bis an den Rand der Gegenstandslosigkeit gehen: bewegte Meere mit glühenden Sonnenuntergängen, das Brausen der Wellen, die sich stets wandelnden Wolkenformationen, das Ineinanderübergehen oder Aufeinandertreffen der Elemente am Horizont. Die Farbe hat hier einen eigenständigen Bildwert erhalten, hinter dem die Motivschilderung zurücksteht. Fasziniert vom unerschöpflichen Gestalt- und Farbenreichtum des Meeres suchte Nolde auch später immer wieder nach adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten für das Urzuständliche und fand sie in der lebhaften Pinselführung und im pastosen Farbauftrag wie in der vehementen Dramatik des Kolorits mit irisierenden Reflexen aus Weiß, Gelb, Blau und Rot. Hier existiert keine Distanz mehr zwischen Mensch und See, der Betrachter befindet sich inmitten des tosenden Meeres, das ihn von allen Seiten umgibt, während sein Blick doch nur einen Ausschnitt aus der Unendlichkeit zu erfassen vermag.
Nicht mehr Formauflösung, sondern Formverfestigung, Vereinfachung und Verdichtung bestimmen dann die Gestaltung seiner Bildnisse und Figurenbilder. Über das unmittelbare, momentane Seherlebnis hinaus wollte Nolde das Wesentliche und Allgemeingültige ins Bild heben. Die Gemälde „Marktleute“ und „Bauern (Viborg)“, beide 1908, zeigen schon die gleitenden Übergänge zwischen Alltäglichem und Phantastischem. Bereits die karikaturhafte Überzeichnung der typisierten Physiognomien der zusammenstehenden „Marktleute“ genügt, um etwas Unheimliches und Gefährliches ins Bild hineinzubringen. Doch diese Arbeiten mit ihren karikaturistischen Übersteigerungen bilden nur eine Vorstufe zu den seit 1912 „allein mit den Farben“ und „jenseits von Verstand und Wissen“ (Nolde) geschaffenen Bildern mit phantastischen Motiven. Ihre beunruhigende Spannung ergibt sich sowohl aus der grotesken Konfrontation der Figuren als auch der Ausdruckskraft der grellen Farbkontraste.
Schon in seinem Bild „Vor Sonnenaufgang“ von 1901 beleben frei erfundene Phantasiegestalten die Bildwelt. Nolde hatte damals den Sommer am Lild Strand verbracht, einem einsam gelegene Fischerdorf an der Nordküste Jütlands, und sich in einen rauschhaften Zustand hineingesteigert, in dem Wahrgenommenes und Phantasiertes ineinander überzugehen begannen. Urtümliche Naturwesen sollten von nun an seine phantastisch-grotesken Arbeiten bevölkern. Er sah sich von Gesichtern umgeben: „wohin ich schaute, die Natur war belebt, der Himmel, die Wolken, auf jedem Stein und zwischen den Zweigen der Bäume, überall regten und lebten in stillem oder wildem lebendigen Leben meine Gestalten, die mich in Begeisterung versetzen und auch plagend nach Verbildlichung riefen“. Diese Traum-Gesichter werden wohl auch von alten Sagen inspiriert worden sein, doch zumeist sind sie Erfindungen aus einer persönlichen Erfahrung der Natur.
Nolde war ja ein ganz auf den Instinkt setzender Maler („Instinkt ist zehnmal mehr als Wissen“), bodenständig, von politischer Naivität und geriet mit seiner Auffassung vom „Nordischen“ und „Deutschen“ in die Nähe völkischer Ideologie. Manfred Reuther spricht im Katalog von „Verunreinigungen, die den neutralen Begriff zur Beschreibung einer durch die Herkunft aus dem nördlichen Europa geografisch und kulturell definierten Identität auch in Noldes autobiographischen Äußerungen eingetrübt haben“. Das Verdikt als „entarteter Künstler“ durch die Nationalsozialisten sowie das sich anschließende Malverbot traf Nolde hart. Mit über tausend in deutschen Museen beschlagnahmten Werken war er einer der Hauptbetroffenen. Das Selbstverständnis als nordischer Künstler – im Katalog wird darauf verwiesen – lieferte ihm das Fundament seiner Originalität und Individualität und hat nichts zu tun mit der Rassenideologie der Nazis. Das muss deutlich betont werden.
Im Gegensatz zu Paul Gauguin, der 1891 Frankreich verließ und zur „Insel der Seligen“ nach Tahiti aufbrach – er wollte dort zum Eingeborenen werden -, hatte der Norddeutsche Emil Nolde nie die Absicht, nach einem fernen Arkadien zu entfliehen. Als er und seine Frau Ada 1913 mit einer „medizinisch-demographischen“ Expedition nach Deutsch-Guinea reiste, damals eines der kolonialisierten „Schutzgebiete“ des wilhelminischen Kaiserreichs in der Südsee, hatte er ganz andere Beweggründe: Er war auf der Suche nach Urexistenzen des Menschlichen, nach „Urvölkern“, die noch im Einklang lebten mit der Natur. Bereits vorher hatte er im Berliner Völkerkundemuseum Masken, Figuren und Kultgegenstände gezeichnet. Der Rückgriff auf „primitive“ Formen sollte den Ausdruck steigern und zugleich zu den Grundlagen der seelischen, geistigen Lebensverhältnisse zurückführen. Eine originäre Welt jenseits der Kälte und Anonymität der modernen großstädtischen Zivilisation sollte in der Kunst entstehen.
Noldes Südseereise 1913/14 wird mit 21 Ölbildern, teils in der Südsee, teils nach der Rückkehr in die Heimat entstanden, mit fast 80 Papierarbeiten, mit Skulpturen und Holzschnitten in der Berliner Dependance der Nolde Stiftung (bis 18. Mai 2008) vorgestellt. Manfred Reuther lässt den Leser in einem umfangreichen Katalogtext Emil Noldes „Ostasienfahrt und die bewegte Südseereise“ nachvollziehen. Aber auch Ada Noldes Reiseerinnerungen, die sie mit Zeichnungen und Aquarellen ihres Mannes an Gymnasien vortragen wollte und die ihr vom Königlichen Landratsamt in Sonderburg „wegen der Kriegsgeschehnisse“ nicht genehmigt wurden, vermitteln im Katalog einen ebenso authentischen wie emotional bewegenden Reisebericht. Noldes Ölbilder von der Südsee geben den machtvollen Auftakt, bevor in annähernder Chronologie die Stationen der Reise über Russland, Korea, Japan, China, Hongkong und die Philippinen bis in die Südsee verfolgt werden. Denn auch unterwegs hat Nolde mit Tusche und Aquarellfarben auf den sibirischen Bahnhöfen, im japanischen Theater, im Dschunkengewirr auf dem Hanfluß oder bei seinen Beobachtungen auf der Gazelle-Halbinsel das Geschaute unmittelbar umgesetzt.
In den Gemälden suchte Nolde das Mythische sichtbar zu machen, das ihm in der exotischen Natur entgegentrat, das metaphysische Empfinden der Ureinheit Mensch – Natur zum Ausdruck bringen. In „Tropenwald“ lockt der Dschungel mit seinem in alle Richtungen wuchernden Grün, dessen leuchtender Komplementärkontrast die beiden auffliegenden knallroten Papageien sind, aber gleichzeitig hemmt die Angst vor dem Unbekannten am tieferen Eindringen in die Vegetation. In „Buschweg“ und „Krokusblüte“ ist der Dschungel nicht mehr so abweisend, er lädt ein in eine gebändigte „Urnatur“, in die sich auch der Maler hineinwagt. In „Tropensonne“ blickt der Betrachter in Meeresspiegelhöhe auf einen faszinierenden Sonnenuntergang. Über den Baumwipfeln steht die Sonne als glutroter Ball inmitten einer strahlenden Aura. Eine intensiv orange-gelbe Wolke spiegelt dagegen das Farbenspiel der gerade unter den Horizont gesunkenen Sonne. Nolde hat die Farben in großen Flächen aufgetragen und nicht wie in seiner norddeutschen Heimat expressiv übersteigert. Demgegenüber sind die Figurenbilder ausgesprochen dunkel in ihrer Farbigkeit. In „Familie“ verschmelzen die auf dem Boden sitzenden Insulaner ganz mit dem Bildgrund. Aus den dunkelbraunen Flächen leuchten nur die roten Lippen, das Weiß der Augen und Zähne des Mannes hervor. Angst und Aggression mischen sich in seinem suggestiv bohrenden Blick.
Nolde hat die atemlose Spannung gegenseitiger Fremdheit in seine Malerei übertragen, er wollte – anders als in seinen nordischen Bildern - eine Distanz zum Betrachter herstellen.
Er hat die Eingeborenen gezeichnet und aquarelliert, aber auch die tropische Landschaft mit ihrer farbenprächtigen Flora und Fauna. Wie in filmischen Großaufnahmen ziehen die Köpfe der Eingeborenen, Gesichter mit groß aufgerissenen Augen, manche mit Merkmalen ihrer Stammesherkunft, nah und doch so fern an uns vorüber. Naturhafte Gestalten, auf dem Dorfplatz, am Ufer, in Auslegerbooten oder schwimmend im Wasser, gleichsam ikonenhafte Darstellungen von Mutter und Kind. Eine originäre, bevorzugte Skala von Rot, Blau und Violett. So sehr Nolde die Kultgegenstände Neuguineas schätzte und selbst sammelte, hat er sie doch nicht in seine Südsee-Arbeiten einbezogen. „Die Urmenschen leben in ihrer Natur“, schrieb er 1914 aus der Ferne, „sind eins mit ihr und ein Teil vom ganzen All. Ich habe zuweilen das Gefühl, als ob nur sie noch wirkliche Menschen sind, wir aber etwas wie verbildete Gliederpuppen, künstlich und voll Dünkel.“
In der anthropologischen Fixierung ursprünglicher Menschlichkeit haben viele seiner Studien dokumentarischen Charakter. Die Frontal- und Profilstellungen seiner Köpfe von Eingeborenen mit den Variationen an Haartracht und Schmuck erinnern an die Darstellungsweise ethnografischer Fotografien, die Nolde durch die ausdrucksstärkere Wirkung seiner Handzeichnungen zu übertreffen suchte. Damit unterscheiden sich Noldes Südsee-Blätter auch von der romantisierenden Inselexotik Max Pechsteins, die dieser 1914 im „Gefilde der Seligen“ auf Palau in einer mehr illustrativen Weise festhielt. Auf der Rückreise nach Europa wurde Nolde vom Ersten Weltkrieg überrascht, sein Reisegepäck mit den Gemälden und Kunstgegenständen von den Engländern beschlagnahmt – viele Jahre später spürte sie Nolde wieder auf. Doch die Mappen mit den Aquarellen und Farbstiftzeichnungen konnte er retten.
Noldes Südsee-Reise schlug sich zwar in zahlreichen Aquarellen und Gemälden nieder, veränderte aber seinen Ausdruck nicht nachdrücklich. Es war vielmehr so, dass sein Aufenthalt auf den Palau-Inseln Vorhandenes bestätigte, eine Vorstellungswelt und damit auch einen Stil vertiefte, der ihm wesentlich aus der Auseinandersetzung mit seiner Heimat erwachsen war.
Literaturangaben:
HÜLSEWIG-JOHNEN, JUTTA (Hrsg.): Emil Nolde. Begegnung mit dem Nordischen. Vorwort von Thomas Kellein. Mit Textbeiträgen von Andreas Fluck, Jutta Hülsewig-Johnen und Manfred Reuther. Kerber Verlag / Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 2008. 192 S., 29,95 €.
REUTHER, MANFRED (Hrsg.): Emil Nolde – Die Südseereise 1913-1914. Herausgeber Manfred Reuther. Nolde Stiftung Seebüll und DuMont Buchverlag, Köln 2008. 140 S., 29,90 €.
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