BERLIN (BLK) – Im Juni 2010 erschien bei Rogner und Bernhard das Buch „Messerwerfen & Absinth. Praktische Einführung in die Kunst des gefährlichen Lebens“ von William Gurstelle.
Klappentext: Das Leben ist entweder ein großes Abenteuer oder eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Diese Überzeugung gewann William Gurstelle, nachdem er sich viele Jahre seines Arbeitslebens als Ingenieur beinahe zu Tode gelangweilt hatte. Er nahm sein Hobby aus Studentenzeiten, die Konstruktion von Wurfgeschossen, wieder auf und schrieb darüber einen Bestseller. So kam er zu der Erkenntnis, dass die Menschen in einer Zeit, in der sich alles darum dreht, Gefahren zu vermeiden, eine große Sehnsucht nach dem Nervenkitzel, nach dem echten Abenteuer verspüren. Seine Beobachtungen und Anregungen bündelt Gurstelle in dem Buch MESSERWERFEN & ABSINTH. In dieser waghalsigen Mischung aus Wissenschaft, Kulturgeschichte und praktischer Anleitung zeigt er, worin die Kunst des Messerwerfens besteht, wie man einen Feuertornado baut – und viele nützliche Fähigkeiten mehr, die den Lebemann vom Langweiler unterscheiden. Ein Buch für alle, die ahnen, dass es noch mehr im Leben geben muss, als Risiken abzuwägen.
William Gurstelle ist Autor von Backyard Ballistics, das sich bis heute 250.000 Mal verkauft hat. Neugierige lernen dort, wie man Maschinen herstellt, um Kartoffeln mit 100 Stundenkilometer in die Luft zu schießen, wie man Drachen aus brennenden Zeitungen baut und anderes Wissenswertes mehr. Weitere Veröffentlichungen sind „The Art of the Catapult“; „Building Bots“ und „Adventures from the Technology Underground“. (ton)
Leseprobe:
©Rogner und Bernhard©
Prolog
Das Zeitalter der Hasenfüße
„Wir leben im Zeitalter der Hasenfüße, in dem alles eine blasse Parodie seiner selbst ist, von salzlosen Brezeln bis hin zu Klassenräumen mit schaumstoffgepolsterten Ecken und schwer entflammbaren Tapeten.
Ich klage die Leute an der Spitze unserer Gesellschaft an, weil sie den Ton setzen.
Ich klage die Eltern an.
Ich klage die Tugendwächter an.
Irgendwann im Lauf der letzten Generation haben wir uns angewöhnt, nicht mehr in erster Linie das Unmoralische zu missbilligen, sondern das Ungesunde und Gefährliche.
Deshalb ist Rauchen inzwischen ein schlimmeres Übel als alles, was in sechs der Zehn Gebote genannt wird, und das Wort „sündig” wird inzwischen hauptsächlich im Zusammenhang mit Schokolade benutzt.
Vorbei ist die Zeit der ausgelassenen Gelage – zumindest für die gebildeten Schichten. Vorbei ist die Zeit der großen, zweckfreien Geste.“
– Gekürzt nach einem Essay von David Brooks in der New
York Times vom 12. März 2005
1. Die Lust am Nervenkitzel
„Das Leben ist entweder ein gewagtes Abenteuer, oder es ist nichts.“
– Helen Keller
Die Schlagzeile auf der Titelseite der Los Angeles Times vom 18. Juni 1952 lautete: „Raketenwissenschaftler bei Explosion in Pasadena getötet“. Bei dem unglücklichen Wissenschaftler handelte es sich um John Whiteside Parsons, einen brillanten, aber (um es milde zu formulieren) sonderbaren Mann, der das weltberühmte Labor für Düsenantriebe im kalifornischen Pasadena gegründet hatte. In der Folge baute er die inzwischen gigantische Aerojet Corporation auf, einen bedeutenden Raumfahrtkonzern, der sich auf Antriebe für Raketen und Raumfähren spezialisierte und zu dessen Produkten die Triebwerke der Atlas-, Titan- und Delta-Raketen zählen.
Am frühen Nachmittag des bis dahin beschaulichen Tages in dem hübschen, wohlhabenden Vorort von Los Angeles erschütterte eine gewaltige Explosion die Nachbarschaft. Die kilometerweit zu hörende Detonation zerstörte das betagte dreistöckige Gebäude in der South Orange Grove Avenue 1003 vollständig. Die Nachbarn hatten sich an eigenartige Vorgänge an dieser Adresse gewöhnt, denn dort verkehrte stets ein seltsames Völkchen – Bohemiens aus der Kunstszene, Autoren von Science-Fiction und Okkultisten, um nur einige zu nennen.
Diesmal allerdings war die Sache ernst. Sirenen heulten, und nach kurzer Zeit waren Löschzüge mit Feuerwehrleuten aus ganz Los Angeles zur Stelle. Ein paar mutige unter ihnen wagten sich in die rauchenden Trümmer, um nach möglicherweise darin verschütteten Überlebenden zu suchen. Nachdem sie den verkohlten Schutt beiseitegeräumt hatten, fanden sie Parsons, beziehungsweise was von ihm übrig war, unter einer umgestürzten Waschwanne.
Als sie ihn auf den Rücken drehten, mussten die Retter schlucken, denn mehrere Teile des Körpers fehlten, darunter ein Arm und die Hälfte seines Gesichts. Als sie ihn untersuchten, stellten sie einen schwachen Pulsschlag fest; verzweifelt zogen sie ihn daraufhin aus den Trümmern in der bangen Erwartung eines Wunders, das jedoch nicht eintrat. Sein Fall war hoffnungslos, und nach einer Stunde erlag er seinen Verletzungen. Als Todesursache wurde ein Explosionsunfall festgestellt, ausgelöst durch die unsachgemäße Handhabung einer enormen Menge Knallquecksilbers.
Knallquecksilber (auch Quecksilberfulminat genannt) ist ein hochbrisanter Initialsprengstoff, dessen Herstellung die genaue Beachtung bestimmter Laborverfahren erfordert; die Ausfällung erfolgt durch Lösung von metallischem Quecksilber in Salpetersäure unter Hinzugabe präziser Mengen von Ethanol, bis Kristalle des Sprengstoffs aus der Lösung hervorgehen.
Die meisten Chemiker werden Ihnen sagen, dass Knallquecksilber ein viel zu gefährlicher Stoff ist, um ihn im Heimlabor herzustellen, es sei denn in ganz winzigen Mengen. Er ist nicht nur giftig, sondern auch dermaßen empfindlich, dass er bei der geringsten Berührung in die Luft fliegt. Ein kleiner Stoß, ein versehentlicher Schlag oder ein Fall aus geringer Höhe reichen dafür aus. Sogar bloßes Umrühren kann ihn hochgehen lassen.
Die Polizei führte am Unfallort eine sorgfältige Spurensicherung durch. Dabei fanden die Beamten Überreste von zahlreichen Behältern, in denen sich verschiedene Sprengstoffe befanden. Nachdem die kriminaltechnischen Indizien ausgewertet waren, kam man zu dem Ergebnis, dass Parsons versehentlich eine Kaffeekanne voll mit dem Zeug fallen gelassen haben musste. Dieser Absturz aus einem Meter Höhe hatte ausgereicht, um seinem Leben ein Ende zu setzen.
Noch heute ranken sich Gerüchte und Geschichten um Parsons’ Leben. Ohne eine Collegeausbildung absolviert zu haben, machte er in den 1930er und 1940er Jahren Erfindungen auf dem Gebiet der Raketentechnik, die erstaunlich waren. Von ganz besonderer Bedeutung war dabei sein Beitrag zur Entwicklung von Raketentreibstoffen. So hatte Parsons erheblichen Anteil an der erfolgreichen Umsetzung des im Aufbau befindlichen amerikanischen Programms zur Weltraumforschung. Er gilt unter anderem als Erfinder des Gussverfahrens zur Herstellung von Raketentriebwerken für Festbrennstoffe.
Derartige Festbrennstofftriebwerke beförderten die riesigen Saturn-V-Raketen ins All, mit denen die amerikanischen Astronauten zum Mond flogen. Inzwischen ist Parsons’ Leistung Grundlage für die Konstruktion der zwei Feststoffzusatztriebwerke, die den Spaceshuttles der NASA den nötigen Antriebsschub beim Abheben geben.
So bemerkenswert wie seine berufliche Laufbahn war Parsons’ Privatleben. Er zeigte großes Interesse an Mystik und galt gerüchteweise sogar als Schüler von Aleister Crowley, einem britischen Schriftsteller, der als der vielleicht größte Okkultist des 20. Jahrhunderts gelten kann. Kollegen bemerkten, wie er vor jedem Raketenstart Crowleys „Hymne an Pan“ rezitierte, ein seltsames Gedicht zu Ehren des flötespielenden, bocksbeinigen griechischen Fruchtbarkeitsgottes.
Doch die Parsons nachgesagte Lust am Risiko und seine Hemmungslosigkeit ging noch weiter. Geschichten über Orgien, schwarze Magie und sogar Inzest sind im Umlauf. Falls Parsons tatsächlich Satan gehuldigt haben sollte, muss ihm seine Berufswahl dabei zupass gekommen sein, denn kein Mann auf der Welt hantierte fröhlicher mit Feuer und Schwefel als er. Seine Leistungen sind unvergessen. Auf der dunklen Seite des Mondes wurde 1972 ein Krater nach ihm benannt. Seinem Wesen nach zu urteilen, hätte er sich von solch einem Ort vermutlich angezogen gefühlt.
Sozialwissenschaftler verwenden für Leute wie Parsons die Kennzeichnung „Typ-T-Persönlichkeiten“. „T“ steht dabei für thrill, den Nervenkitzel. Persönlichkeiten des T‑Typus sind Menschen von hoher Energie, die ihre Lust am Nervenkitzel Aufregung und Stimulation suchen lässt. Findet so ein Mensch den gewünschten Nervenkitzel nicht, schafft er oder sie ihn sich selbst. Der Begriff Nervenkitzel bezieht sich dabei auf weite Teile der Psyche. Er kann körperlich empfunden werden, aber auch geistig. Die Bedeutung des Nervenkitzels erschöpft sich aber nicht im puren Vergnügen. Wer wieder und wieder den Nervenkitzel sucht, wird, wie wir sehen werden, allmählich eine Reihe wichtiger Eigenschaften erwerben, zum Beispiel Selbstvertrauen, situative Kontrolle und die Fähigkeit, unter außergewöhnlichen Umständen rational zu denken und zu handeln.
Entscheidend ist dabei der Balanceakt, der erforderlich ist, damit die Lust am Nervenkitzel sowohl kunstvoll als auch nutzbringend ist. Die Kunst zu lernen, wie man gefährlich lebt, ist meiner festen Überzeugung nach eine wichtige Fähigkeit im Leben. Anders gesagt: Was das Risiko betrifft, gehören die Menschen in eine von zwei Kategorien – entweder man meidet das Risiko, oder man sucht es. Die Risikofreudigen wiederum können das Risiko auf falsche Weise suchen, nämlich böswillig und ohne Erfolg, oder auf richtige Weise – gekonnt und elegant und mit sehr guten Chancen, ihr Ziel zu erreichen.
©Rogner und Bernhard©
Literaturangabe:
GURSTELLE, WILLIAM: Messerwerfen & Absinth. Rogner und Bernhard, Berlin 2010. 240 S., 17,90 €.
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