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Michelangelo – Prototyp des modernen Ausdruckskünstlers

Ein schwergewichtiger Band setzt einen neuen Standard in der Kunstliteratur

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 04.04.08

 

Der erste Eindruck: Leserunfreundlicher kann kein Opus sein als dieses: fast 10 Kilo schwer, unhandlich das Format (44 x 28 cm), der Umfang 800 Seiten stark. Das Kompendium auf den Schoß zu legen, ist zu unbequem und belastend; auf dem Tisch ausgebreitet, muss man sich stehend darüber beugen. Mit sich herumtragen kann man es auch nicht, und gar abends im Bett darin zu blättern – ein aussichtsloses Unterfangen.

Aber schlägt man dann „Michelangelo. Das vollständige Werk“ auf, ist alles Ungemach vergessen. Typografisch hervorragend gestaltet, ein lesbarer, allgemein verständlicher Text, keine „Fachsprache“ und vor allem eine opulente Bildausstattung. Ja, das hier ausgebreitete Bildmaterial ist einfach überwältigend. Die berühmten Skulpturen Michelangelos werden von allen Seiten, in Gesamtansicht und im Detail (Gesichtsausdruck, Handbewegung, Faltenwurf), gezeigt. Der transitorische Moment der Bewegung, den Michelangelo in allen seinen Werken einzufangen suchte, wird in den Abbildungen sowohl der Skulpturen als auch der Malereien übertragbar.

Der David (1501-04), jene Kolossalstatue von über fünf Metern Höhe, die zum Wahrzeichen der Republik Florenz wurde, kann rundum – auch von oben – betrachtet werden. Dieser Gigant des Geistes und Körpers ist im Moment höchster Konzentration und Entschlossenheit eingefangen. Seine Haltung und Gestik wird durch die Seitwärtsdrehung des Kopfes bestimmt, was keinerlei Vorbild aus der Antike besitzt.

Ein unbestreitbarer Höhepunkt des Bandes ist die Darstellung der Malerei in der Sixtinischen Kapelle, mit der Michelangelo eine völlige Verschmelzung des Antiken mit dem Christlichen, des Profanen mit dem Heiligen gelungen ist. „Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag“, so das Urteil Goethes. Michelangelos Programm hatte die Neuschaffung des Universums zum Thema, die gesamte Genesis, die Erschaffung von Licht und Finsternis, Sonne und Mond, Mann und Frau, sollte an die Decke gebracht werden.

So bemalte der Künstler zwischen 1508 und 1512 mehr als 1000 Quadratmeter Fläche und füllte das ganze Gewölbe mit beinahe 300 Figuren. Dem Propheten Jesaja soll er seine eigenen Züge gegeben haben. In aufklappbaren Bildtafeln wird diese riesige Deckenfläche gezeigt (die Abbildung erreicht hier ein Ausmaß von 112 x 44 cm) – eine schematische Zeichnung gibt zudem eine Orientierung über die Themen und Bildfelder - und dann wieder in ihren einzelnen Segmenten zerlegt. Ständig wechselt die Perspektive von nah und fern, von Detail und Totale, die Virtuosität und Vielfalt der Figuren werden mit den Verkürzungen und Ausdehnungen der Felder in Beziehung gesetzt. Sintflut, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies, die Erschaffung Adams – auch diese wiederholt zum Ausklappen vorgeführt.

Ein weiteres sinnliches Schauerlebnis ist „Das Jüngste Gericht“ (1536-1541) an der Altarwand der Sixtinischen Kapelle: Auf einer Fläche von 17 Meter Höhe und 13 Meter Breite drängen sich fast 400 Figuren, die sich in verschiedenen Gruppen um die zentrale Figur, Christus, scharen. Von vielen Figuren wissen wir, dass sie Porträtzüge von Zeitgenossen Michelangelos tragen. Auch sich selbst hat er hier gleich zweimal dargestellt. Das Fehlen eines architektonischen Rahmens bewirkt, dass die riesige Fläche allein durch die Auf- und Abwärtsbewegung der zahllosen Figuren bestimmt, das Fresko theoretisch in der Unendlichkeit fortgeführt wird. Durch die Öffnung in der Wand erhält der Betrachter Einblick in eine himmlische Welt.

Im Sixtinischen Gewölbe lag noch aller Ausdruck im Figürlichen. Doch im Grabmal der Medici (1520-1534) dienten ihm die menschliche Figur und die architektonische Gliederung als gleichwertige Ausdruckselemente. Über den allegorischen Figurenpaaren der Tageszeiten thronen die Figuren der beiden Medici in der Pose römischer Feldherren. Einen poetischen Kommentar zur Deutung der Nacht lieferte Michelangelo selbst in einem berühmten Gedicht: „Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise / Ich Stein zu sein. Währt Schande und Zerstören, / Nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören. / Drum wage nicht zu wecken. Ach! Sprich leise.“

Die Autoren Frank Zöllner (Universität Leipzig) und Christof Thoenes (Rom und Hamburg) beschreiben in zehn Kapiteln Leben und Werk Michelangelos, wobei sie seinen Lebensverhältnissen, seiner übermenschlichen Schaffenskraft, seiner Gier nach Geld und Aufträgen, seinem Geschick als Immobilieninvestor besondere Aufmerksamkeit schenken. Michelangelo wird als Prototyp des modernen Ausdruckskünstlers vorgestellt. Was einen gewissen Abstrich am „Gesamtwerk“ machen könnte, wäre, dass merkwürdigerweise der Lyriker Michelangelo in dem Band ausgespart bleibt.

Dann erfolgt der Katalog mit einem vollständigen analytischen Verzeichnis der Skulpturen, 44 Werke (Frank Zöllner); der Gemälde, sieben Werke einschließlich der Sixtinischen Decke und des Jüngsten Gerichts (Zöllner); der Architektur, 16 Werke (Christof Thoenes); und der Zeichnungen (Thomas Pöpper, Universität Leipzig, und Christof Thoenes). Die 535 Zeichnungen werden auf allein 250 Seiten in Gruppen vorgestellt und im Einzelnen nicht kommentiert. Die figürlichen werden von den architektonischen Zeichnungen getrennt, und innerhalb der figürlichen Zeichnungen wird eine thematische, projektbezogene oder entstehungszeitliche Gliederung angestrebt. Der neue Dokumenten- und Inventarfund der Zeichnungssammlung von Tommaso de’ Cavalieri, dem engsten Vertrauten Michelangelos, der zahlreiche Zeichnungen des Freundes besaß, stellt zudem klar, dass sich in dieser Sammlung gerade mal vier Michelangelo-Zeichnungen befunden haben, während doch bisher eine ungleich größere Zahl vermutet wurde.

Michelangelo hat überhaupt nur eine Zeichnung eigenhändig signiert und schon zu seinen Lebzeiten sind die Zeichnungen kopiert und nachgeahmt worden. Er war im 16. Jahrhundert überhaupt der meistkopierte Künstler. Die Geschichte der Zu- und Abschreibungen der Zeichnungen war schon immer ein heikles Thema der Michelangelo-Forschung. Die Zuschreibungen variierten zwischen 900, über 650 und knapp unter 200 Zeichnungen bzw. Blättern. Der jetzt von den Autoren Pöpper und Thoenes vorgelegte Corpus der Zeichnungen, für den die Begründung nicht mitgeliefert wird – nur in Ausnahmefällen werden einzelne Zeichnungen diskutiert – , hat nun den Widerspruch gerade der Museumsdirektoren und -kuratoren hervorgerufen, in deren Obhut sich bisher Michelangelo zugeschriebene Zeichnungen befinden, die nun hier im Corpus als Nachahmungen eingestuft werden, also unter die Abschreibungen fallen.

So soll die Studie einer Auferstehung Christi (um 1532-34), die die Royal Collection in Windsor Castle besitzt, nicht mehr von Michelangelo stammen, dagegen besteht an einer zweiten Studie zur Auferstehung aus derselben Zeit im Besitz des British Museum in London kein Zweifel, dass es sich hier um ein Original handelt. Pöpper spricht auch einer Reihe von Zeichnungen der Wiener Albertina-Sammlung die Authentizität der Handschrift ab, was eine empörte Reaktion des Albertina-Leiters Klaus Albrecht Schröder ausgelöst hat. Er wirft Pöpper sogar vor, keinen Schritt in den Zeichensaal der Albertina gesetzt zu haben. Aber gebührt diesen nunmehr aussortierten Zeichnungen nicht dennoch das Qualitätssiegel einer hochwertigen Kunst?, so fragt mit Recht mancher Kritiker. Bei den Zu- und Abschreibungen ist sicher das letzte Wort noch nicht gesprochen, die Michelangelo-Forschung wird sich da immer wieder auf neue Erkenntnisse und Vorgehensweisen stützen. Im Band geht allerdings anhand einer umfangreichen Konkordanz der Überblick über den Gesamtcorpus der Zeichnungen nicht verloren.

Unbestreitbar dürfte sein: Dieser Corpus der Michelangelo-Werke setzt in Darstellung und Ausstattung einen neuen Standard in der Kunstliteratur. Von überschwänglichem Lob bis zur polemischen Attacke, vor allem was die Zuschreibungen der Zeichnungen anbelangt, gehen die bisherigen Reaktionen. Während dieses Opus für die Kunstwissenschaft eine Herausforderung darstellt, sollten sich die Kunstinteressierten ganz dem Vergnügen hingeben, in diesem im zweifachen Sinne schwergewichtigen Buch nach Lust und Laune zu blättern.

Literaturangaben:
ZÖLLNER, FRANK / THOENES, CHRISTOF / PÖPPER, THOMAS: Michelangelo. 1475-1564. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007. 768 S., 150 €.

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Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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