Von Volker Lühr
Ein handliches, gut lesbares und bestens informiertes Buch. Der Autor, Historiker von Haus aus und ehemals Wissenschaftlicher Direktor am Bundesinstitut für Berufsbildung, schildert Migration zunächst als weltgeschichtliche Erscheinung und richtet die Darstellung sodann auf Europa und vor allem Deutschland, und zwar in Vergangenheit und Gegenwart. In diesem zweiten, bei weitem umfangreicheren Teil befasst er sich vornehmlich mit praktischen Problemen, die sich aus der Migration und deren Veränderung im Zeitverlauf ergeben. Das Resultat ist ein Abriss westdeutscher, sodann gesamtdeutscher Migrationspolitik unter Hervorhebung von Maßnahmen der beruflichen und sprachlichen Bildung.
Zu den besonders einschneidenden Veränderungen im Zeitverlauf gehört die Umkehrung der Wanderungsrichtung. Europa, in den jüngeren Jahrhunderten eher von Auswanderungswellen heimgesucht, ist zu einer Region der Einwanderung aus aller Welt geworden. Der Vorgang dauert bereits Jahrzehnte. Seinen Niederschlag in der gesellschaftlichen und auch politischen Wahrnehmung hat er allerdings mit erheblicher Verzögerung – sogar: Verleugnung – gefunden.
Von der Verzögerung ist vor allem die Verwaltungspraxis betroffen. Sie hat die Aufgabe, die Zuwanderung von Migranten nach den Erfordernissen und Möglichkeiten des Aufnahmelandes zu kanalisieren und Angebote der Förderung bereitzustellen, die das gedeihliche Zusammenleben aller erleichtern. Beides ist schwierig, zumal da gänzlich verschiedene Typen von Migranten Aufenthalt begehren: Gastarbeiter, Studierende, Aussiedler und Spätaussiedler, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, vorübergehend Geduldete, Asylsuchende, illegal Zugewanderte. Geändert hat sich auch die Aufenthaltsdauer: die ursprünglich gehegte Annahme, die meisten Migranten kehrten nach einigen Jahren des Aufenthalts im Gastland in die Heimat zurück und würden nach dem sogenannten Rotationsprinzip durch andere, jüngere ersetzt, erweist sich als irrig; die Migranten wollen bleiben, für immer.
Ein Schock? Befürchtung der Überfremdung? Minarette als Bedrohung nationaler Identität? Vielleicht. Der Autor erwähnt diesen Gesichtspunkt eher beiläufig, ich hebe ihn hervor. Denn er bezeichnet einen grundlegenden Wechsel der gegenseitigen Wahrnehmung. Der Fremde, so dereinst die unausgesprochene Übereinkunft, ist willkommen, weil er als Gast kommt; was aber, wenn der Gast nicht mehr geht, wenn er bleibt und Selbstvergewisserungen aufstört? Die Antwort kann heißen: Pogrom, Ausmerzung. Es ist durchaus ein Schock, und er erinnert an Georg Simmels berühmten „Exkurs über den Fremden“ von 1908, mit dem er ungewollt die Schrecken des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt.
Die Gegenwart – so der Tenor des Buches – hat versucht, aus der Vergangenheit zu lernen. Der Anspruch heißt Versachlichung, wie schwierig sie auch sei. Daher wohl auch die Pragmatisierung des Problems durch Verwaltungshandeln, aber auch durch den Autor, sein Blick vor allem auf Maßnahmen der „beruflichen und sozialen Integration“. Er schildert sie, nach der einleitenden Rückschau auf „Migration und Integration im weltgeschichtlichen Zusammenhang“, in fünf weiteren Kapiteln – „Teile“ genannt – und in drei Exkursen: Teilansichten, die sich zu einem Kaleidoskop wirksamer und weniger wirksamer Lösungen verdichten.
Die Kapitel betreffen „Migration und Integration seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland“, „Veränderung gesetzlicher Rahmenbedingungen mit ihren Auswirkungen auf die berufliche und soziale Integration von Zuwanderern“, „Berufliche Qualifizierung von ausländischen Arbeitskräften zur Verbesserung ihrer Arbeitsmarktchancen und zur Förderung ihrer beruflichen und sozialen Integration im historischen Kontext“, „Demografische Angaben zur ausländischen Bevölkerung und zu ihrer statusrechtlichen Differenzierung“ sowie „Abschließende Bemerkungen: offene Fragen – ungelöste Probleme – entscheidende Faktoren“. Die Exkurse behandeln spezielle Themen: „Duale Berufsausbildung im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit für jugendliche Migranten“, „Die Berufliche Qualifizierung in ihrer Bedeutung für die berufliche und soziale Eingliederung von ausländischen Arbeitnehmern“ und „Die Vermittlung der deutschen Sprache an Zuwanderer für den Beruf und für die Arbeit“.
Die Abfolge der Überschriften verweist auf die Vielfalt der maßgeblichen Gesichtspunkte, selbst bei Fokussierung der Fragestellung auf die zentrale Aufgabe der „beruflichen und sozialen Integration“. Die Schwierigkeit liegt in der Sache begründet. Bildungsprojekte und –programme gehören zu den komplexesten Gegenständen der vor- oder nachgängigen Evaluierung, weil sie viele Beteiligte auf verschiedenen Ebenen des Handelns einschließen: Schüler und deren Mitschüler, Lehrer und deren Kollegen, Eltern, Aufsichtsbehörden, Schulbuchverlage – ferner die Öffentlichkeit der Experten, die sie alle umstellt. Die Rollenkonflikte, die dieser Gemengelage zu entspringen pflegen, sind beträchtlich. Um wie viel komplexer wird der Gegenstand, wenn Bildung auf die gesellschaftliche Eingliederung von Menschen zielt, die einer gänzlich anderen kulturellen Tradition entstammen!
Überhaupt: Was heißt Integration – und wozu ist sie gut? Aus der Sicht des Autors heißt Integration nicht, der Zuwanderer müsse den Habitus eines Deutschen annehmen. Das wäre auch absurd, zumal in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder München, wo selbst das vorgeblich gleichartige Deutsche in unzählige Milieus aufgesplittert ist. Das wird sich nicht ändern, aber man muss damit angemessen umgehen. Die frühere Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John (CDU), hat diese Aufgabe auf den schönen Satz gebracht, wir müssten lernen, dass Menschen das Recht haben, verschieden zu sein – womit sie keineswegs nur unser Verhältnis zu den Ausländern meinte. Nein, Integration bezieht sich auf etwas grundlegend Praktisches: auf die Erlangung eines auskömmlichen Lebens in Deutschland, auf die hinlänglich gut bezahlte Erwerbsarbeit – und zwar, des sozialen Friedens wegen, nach den hier gültigen Standards.
Und daran hapert es. Der Autor erwähnt Statistisches. In Berlin, Hamburg und München waren im Jahr 2008 nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 17, 9 und 5 Prozent der Erwerbstätigen ohne Migrationshintergrund arbeitslos, indessen 33, 18 und 10 Prozent der Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund. Die Unterschiede – jeweils das Doppelte – sind drastisch. Sie verweisen auf Probleme nicht der vorgeblich misslingenden Integration als eines Versinkens in kulturell sich einigelnden Milieus, sondern als Ausgrenzung ins soziale Abseits, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Daher auch die Betonung der beruflichen und – nicht zuletzt – sprachlichen Qualifikation von Migranten.
Durch administrative Zugriffe allein – so die Botschaft des Autors – lassen sich die Probleme nicht lösen. Zu rechnen ist sogar mit Reaktionen devianter Prägung: Gewaltbereitschaft und Kriminalität aller Art. So bleibt denn auch die Frage auf der Rückseite des Einbands, ob die Migranten in Deutschland „ewig Fremde in der Fremde“ bleiben oder „zu gleichwertigen und akzeptierten Mitgliedern der Gesellschaft“ werden, notgedrungen unbeantwortet. Maßnahmen, zumal solche verwaltungstechnischer Art, verändern nicht die Bereitschaft einer Gesellschaft, den Fremden, der nicht mehr geht, als ihresgleichen einzugemeinden.
Das Buch hat, neben der detaillierten Sachdarstellung, einen Subtext. Eine Grafik auf dem Einband symbolisiert dessen Blickrichtung: über der Karte Europas, kaum kenntlich, weil aufgelöst in grobe Punkte, schwebt dort, wo Deutschland liegt, eine riesige Windrose; in deren Orbita kreisen Jahreszahlen, beginnend mit 1685, dem Edikt von Potsdam, und endend mit 2005, dem aktuell geltenden Zuwanderungsgesetz.
Die Windrose könnte auch Hoffnung sein. Über unser kleines Land sind so viele Migrationsströme hinweggegangen, man glaubt es kaum. Das Edikt von Potsdam brachte uns die Hugenotten, doch vorher waren schon viele andere da: Zuwanderer aus allen Himmelsrichtungen. Die zeugten „Mischlinge“. Ja, wir sind sehr zusammengesetzt – was man gern abstreitet. Wir denken, wir seien „bodenständig“, „kernig“, „germanisch“ – unser Problem: Wir sind es nicht.
Kurz vor Weihnachten 2009 brachte die Sache John Kornblum zur Sprache, ehemals Botschafter seines Landes in Deutschland, auf einer Podiumsdiskussion über transatlantische Beziehungen und anderes, in Berlin. Er tat es kulturvergleichend. In Amerika, er meinte die USA, schaue jeder auf den Horizont und den Himmel und wolle beide erobern, in Europa schaue jeder auf seine Hütte und wolle sie verteidigen. Wehe dem Eindringling! Hätte Kornblum das Buch von Günter Kühn zur Hand gehabt, würde er vielleicht hinzugefügt haben: „Angemessenes und wirksames Verwaltungshandeln – Ja. Aber es genügt nicht. Schaut auf den Einband, schaut auf die Windrose!“
Literaturangabe:
KÜHN, GÜNTER: Fremde in der Fremde. Berufliche und soziale Integration von Zuwanderern im historischen Rückblick. W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2009. 182 S., 24,90 €.
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