ZÜRICH (BLK) – In der Reihe Meridiane des Ammann Verlages ist nun Katharina Geisers Erzählband „ROSA IST ROSA“ erschienen.
Klappentext: Ein Mädchen kommt dem Rosa auf die Spur, seinen unvereinbaren Möglichkeiten, die die Welt bedeuten. Die spanische Nonne Abigail steckt Rosenblüten in den Sand. An den Stränden der Bretagne beobachtet Ariadna Efron, die Tochter der Dichterin Marina Zwetajewa, den Gang der Gezeiten und fürchtet viele Jahre später in der sibirischen Verbannung den Fluß Jenissej. Eine Frau rechnet ihrem einstigen Geliebten die Zwischenzeit mittels Erinnerung vor. Hans und Gret streifen in ihrem Liebesübermut durch die Extremadura: Blaumerlen, Mönchsgeier, Rothühner, eine Brücke über einen abgelegenen paradiesischen Fluß, auf dem ein Gewebe kleiner weißer Blüten schwimmt. Eine junge Frau ertrinkt an einem Sommerabend des Jahres 1930 im Zürichsee; die Erzählerin kann das Geschehen nicht rückgängig machen. In ihren Prosatexten fügt Katharina Geiser – wie eine Zeichnende – Details zu Bildern und sucht sich dafür Strich und Material aus. Die Erzählungen sind motivisch verknüpft und formen so einen von Farben schillernden Miniaturkosmos jenseits von Gegenwart und Vergangenheit, Authentischem und Erdichtetem.
Katharina Geiser wurde 1956 in Erlenbach bei Zürich geboren. Sie studierte Germanistik an der Universität Zürich und begleitete drei Söhne ins Erwachsenenleben. Heute lebt sie in Wädenswil am Zürichsee. Ihr Romanerstling „Vorübergehend Wien“ (2006) erhielt große Beachtung. (car/wip)
Leseprobe:
© Ammann Verlag & Co, Zürich ©
Erinnerung an einen Damenhut
Wo das hinführt, Johanna zu folgen von Tür zu Tür, die mit Flacheisen verstärkten Holzstufen hinauf, durch die Laube und über die Schwelle, hinter der mich ein Duftgemisch von Milch, Holzfeuer und Muskat empfängt. Es betört, ich muß erst mal stillstehen, bevor ich weitergehen kann, aber doch gleich über die Schachbrettfliesen, die Unebenheiten, vorüber am kleinen Küchentisch, auf dem sich Papier neben Dosen mit Rosinen und Kandis stapelt. Zugeschlossen sind die Zimmer links und rechts, die Wärme soll in Küche und Gang bleiben. Ließe ich Marmeln rollen, sie zeigten mir den Weg zur Abstellkammer, wohin Johanna verschwunden, wo sie kauernd zu vermuten ist im verwinkelten, verstrebten und gänzlich mit geschwärzten Brettern ausgeschlagenen Raum.
Sie hat die Schachtel geöffnet und hält das Bündel kartonierter Fotos und stockfleckiger Briefe andächtig in ihren alten, weichen Händen, legt jetzt zwei längst ungültige Geldscheine zurück, die am Bündel klebten. Klein waren Umschläge damals und Anschriften reinlich, weil es Brauch war. Die Hand wurde zur Genüge mit dem Stock traktiert, wenn die Feder Tinte kleckste. Johanna setzt sich auf eine Kiste und macht sich daran, im trüben Licht einer Funzel den sperrigen Bandknoten zu lösen.
Sie hat das Bündel auf der Suche nach weiteren Weckgläsern wiedergefunden, gestern erst. Verschollen meinte sie es, doch unter einem Balken weit hinten stieß ihr schwenkender Arm gegen die Schachtel. Die Gefühle wollten zunächst zurechtgerückt werden; einen Tag brauchte Johanna dazu.
Nun wickelt sie das Band auf und steckt es in die Schürzentasche, nimmt die Briefe mit in die Küche.
Leider lebe ich noch.
Genau eine Spanne zwischen Schläfe und Schläfe: Daumen und Mittelfinger der Rechten versuchen, das Beben hinter den Augen zu zerdrücken, die Ellbogen hat Johanna auf den Tisch gestützt, in der linken Handmulde liegt die Schwere des Schädels – daß ein Kopf auch nie leichter wird mit den Jahren und dem Schwinden des übrigen Körpers. Der Geruch von aufgewärmtem Kaffee und die Helligkeit sind plötzlich zuviel, aber atmen muß der Mensch, immerhin lassen die Augen sich für einen Moment schließen.
Bald setzt Johanna die Brille wieder auf und langt nach dem Foto mit dem Mädchen in Berner Festtagstracht, das sie war, drei bis vier Jahre alt, mit Haube, Göller, Kettengehänge und gebrannten Locken. Derart ausgestattet durfte sie den Vater an Sonntagnachmittagen durch Thun begleiten.
In Vaters rauher, trockener Hand waren die Stunden sicher. Seine Augen gehörten ihr und ebenso der wilhelminische Oberlippenbart, der lustig sprang, sobald er, der Vater, ihren Namen aussprach: Hannele. Endlich im Gasthaus, wo die ganze Wand Musik machte, also großartig dröhnte, mußte sie sich hinstellen, „tanz, Hannele“, forderte der Vater in diesem besonderen Vaterton, in dem sie sich auskannte wie in seinem Gesicht. Doch erinnert Johanna sich nicht ans Tanzen, nur an Kühe und Sennen in dieser monströsen Musikautomatenwand, wie sie aus dem Nirgendwo glitten, an ihr als langer Alpaufzug vorüberflossen, dann verschwanden, eine kleine Sonne und Wölkchen am Himmel fuhren mit. Der Vater hob das Johanna-Kind, stellte es auf einen Stuhl, „ja guck, solange du willst“, schließlich war es ihm ein paar Batzen wert, sein Hannele vorzuführen. Er rauchte, bestellte Bier und Sirup, lachte und war auf seltene Weise vergnügt.
Die alte Johanna legt ein Scheit nach. Zwar blühen schon Kirschbäume, aber frostig ist es wieder, über die Laube pfeift es bissig, das Feuern tut not. Mit Johanna lausche ich dem Knacken und Knistern.
Was sie nach ihrem Tod zum Verbrennen anordnen, was sie aus diesem Bündel entfernen wird, sind auch Briefe des Vaters, die er nach den Kriegsdienstjahren aus der Heimat schrieb, wohin er als Freiwilliger und Begeisterter zurückgekehrt war. Mein liebes Hannele! Ich bin den Schützengräben entronnen, konnte Jacke und Mütze für ewig, wie ich hoffe, an den Nagel hängen und habe ein paar Tage Zeit für Dich. Hab kein Mitleid mit mir, weil ich fast nichts mehr höre, andere haben Arme und Beine verloren, leider lebe ich noch. Für die Reise zu mir bist Du bestimmt alt genug. Du hast ja deutsche Papiere und kommst also leicht über die Grenze. Dann hole ich Dich am Bahnhof ab. Steig aus, bleib einfach stehen. Ich warte auf ein Telegramm von Dir. Die herzlichsten Grüße von Deinem Pappa. Tatsächlich machten die zwei p das Verlangen nach ihm stärker.
Ihr Vater in Uniform: linkes Standbein, Wickelgamaschen, Zigarette. Die feste Güte im Blick, stützt er den einen Arm lässig auf das Treppengeländer vor irgendeinem Haus, wo ein Kellerfenster offen steht. Der Vater schaut Johanna auch jetzt an und fordert sie auf Bitte gib bald Nachricht!
Daß sie in der Schule fehlen, sich zur Reise bereitmachen, wirklich reisen durfte!
War es im selben Winter gewesen, wo sie sich gegen einen Klassenkameraden verschworen hatten, der Lehrerin Liebling, den diese während des Unterrichts auf ihrem Schoß sitzen ließ? Ihn darüber hinaus streichelte und lobte. Hinter dem Schulhof lag ein mächtiger Schneehaufen, und sie alle, die gewöhnlichen Kinder, hatten es dem Fabrikantensöhnchen Willi gezeigt, ihn gepackt und mit vereinten Kräften in den Schnee eingegraben, bis nur der kurzgeschorene Kopf noch herauslugte, darin aufgerissene Kirschenaugen. Die Lehrerin rettete und strafte, und der völlig durchgefrorene Willi beobachtete schlotternd, wie all seine Mitschüler mit dem Lineal drei harte Schläge auf die der Lehrerin dargebotenen, zur Knospe geschlossenen Fingerbeeren erhielten, einer nach dem andern, links und rechts.
Mutters Schläge waren weniger gezielt und kamen unvorbereitet. Sie galten Johanna noch, als sie sich als Sekundarschülerin erstmals verliebte, und ein letztes Mal, als sie – bereits volljährig – schwanger wurde und heiraten mußte. Danach glücklich war und es ein Dreiviertelleben blieb.
Lange vorher jedoch saß die elfjährige Johanna in der dritten Klasse der Eisenbahn, fuhr weit und erstmals anders als mit dem Pferdewagen. Die Großmutter Elise war mit dem Mädchen frühmorgens den Weg von Steffisburg zum Bahnhof Thun gegangen, reichte ihm zuletzt Melassenbrote für unterwegs und getrocknete Apfelschnitze für den Vater. Im Innenfutter des Mantels stak die Bewilligung zum Grenzeüberschreiten, von der Kaiserlich Deutschen Paßstelle mit dem Raubvogelstempel bescheinigt. Das Papier war zugleich Johannas Geburtsschein. Es war Krieg, aber zu diesem Wort hatten bisher nur die Berge Militärwäsche und ein abwesender Vater gehört. Was er während zweier Jahre im Infanterie-Regiment 43 getrieben hatte, hieß später in Pappas sanfter leiser Sprache unschön und hatte trotzdem Glückwünsche zum neuen Jahr 1916 aus Königsberg nicht verunmöglicht.
„Soviel Zeit wirst du da oben haben, also kommst mir ohne einen ganzen gestrickten Socken nicht zurück“, hatte die Mutter zum Abschied mit raschen Worten befohlen und Johanna dunkle Wolle entgegengestreckt, in der sie verlorene Maschen besonders schlecht finden würde.
Mit welchen Empfindungen passierte Johanna im Januar 1917 die Grenze? Etwas lüpfte den Körper, sie meinte die Vorfreude im Nacken zu spüren.
Das Kind erreichte Deutschland über Gottmadingen und durfte fünf Nächte bleiben, der kleine Koffer hatte kaum Gewicht. Noch war Johanna heimatberechtigt in Württemberg, gehörte laut den Schriften mehr zum Vater als zur Mutter. Sie fuhr bis nach Stuttgart, denn der Vater wollte weiterhin in seinem Beruf arbeiten, nachdem die Brauerei Gantner in Freiburg – wo er vor dem Krieg gearbeitet hatte – bombardiert worden war.
Anton Müller empfing seine Tochter auf dem Bahnsteig. Nahm die Bierbrauermütze vom Kopf, drückte das Mädele an sich, fragte, wie die Reise gwäse sei.
War es so? Johanna will sich umarmt wissen.
Ans Reisen und an die Stadt Stuttgart erinnert sie sich kaum. Ein steter, freundlicher Nebel ließ sie träumen. Johanna besinnt sich jetzt, daß der Vater sie aufgefordert hatte, jeweils neben ihm uff de Herzsaide zu gehen und zu sitzen, weil er auf dem linken Ohr noch ein bissle hören könne. Und einmal hatte er eine Überraschung geplant, nahm sie also zu einem Freund mit, der ein Münzgrammophon hatte. Johanna spürte damals Pappas Enttäuschung, als sie ihm berichtete, daß auch Großmutters Zimmerherr ein Grammophon habe, wo sie ganz heimlich und selten Musik hören dürfe. Aber diese Musik hier sei schöner, fügte sie schnell hinzu, schöner, weil da nicht italienisch gesungen werde.
Ab dem dritten Tag saß eine fremde Frau mit zu Tisch. Die war gar nicht schrill, dafür zutraulicher und heiterer als Mama. Vielleicht nicht schöner, doch fiel sie immer in Pappas Lachen ein, oder er in ihres, so daß es Johanna wohltat, und die Frau schenkte ihr zum Abschied Würfel, mit denen sie zu dritt um Streichhölzer gespielt hatten.
Johanna stellte dem Vater die Frage nicht, ob er wieder heimkehre; er kam ihr zuvor: „Bleibst nächstes Jahr, so lange du kannst, Hannele, das waren meine schönsten Tage.“
Sie fuhr danach nicht nochmals. Die Mutter beschloß, der Reiserei ein Ende zu setzen.
Liebes Hannele! Warum ich für immer in Deutschland bleibe, wird Deine Mama Dir verschweigen. Ich kann auch nur von meiner Seite Stellung nehmen ... Johanna liest langsam und nochmals. Dreht Karten um. Hält ein Foto näher ans Licht. Hier ist sie, vielleicht neunjährig, allein mit der Mutter, denn mit einer Schere krumm weggeschnitten ist der Vater, nur sein linkes Knie ist sichtbar. Dann faltet Johanna ein gelbes, festes Papier auf: An Fräulein Johanna Müller, Hebamme in der Frauenklinik, Bern. Nachlaßgericht Stuttgart. Beschluß vom 2. September 1929. Gemäß §1994 BGB hat das Jugendamt Esslingen als Vormund von Elsa Strobel, geboren am 20. Januar 1921, deren natürlicher Vater, der am 9. Mai desselben Jahres verstorbene Anton Müller, Geräteverwalter in Stuttgart, ist, den Antrag auf Bestimmung einer Inventarfrist gestellt. Den Erben des Anton Müller wird entsprechend diesem Antrag aufgegeben, ein Nachlaßinventar zu errichten und dieses bis spätestens 15. Oktober 1929 dem Nachlaßgericht hier einzureichen. Das Inventar ist vollständig und gewissenhaft ... Warum Johanna die Begegnung mit ihrer Halbschwester nie gesucht hat, ist nunmehr eine einfache Feststellung. Johanna hat Elsa vergessen, hat den Vater vergessen, als Elsa zur Welt kam, und als der Vater starb, blieb nichts als Wehmut und Scham. Den gemeinsamen Vater hatten Johanna und Elsa beide in ihren Mädchenzeiten eine zu kurze Zeit nur wie zum Pfand besessen.
So was von geknickt ist eines der Bilder, als wäre es dauernd in einer Brieftasche herumgetragen worden. Mehr als zwei Jahre alt wird Johanna da nicht gewesen sein: mit Biedermeierhütchen vor der schneebedeckten Jungfrau im Atelier des Fotografen Oscar Nikles, schon wieder auf einen Stuhl gehoben, damit sie wie eine wichtige Person zwischen Vater und Mutter stand, mit offenem Mund und Kugeläuglein. Während der Vater eine freundliche Miene zum langweiligen Posieren machte, sprach die puppenhaft hübsche Mutter ununterbrochen und hatte sich theatralisch ausstaffiert. Sie schwenkte einen modischen Sonnenschirm und trug einen ausladenden Hut, auf dem eine riesige Schleife brütete. Dunkelrot war die, plötzlich erinnert Johanna das schimmernde, kostbare Rot. Die Schneegrate der Jungfrau im Hintergrund und die sich kreuzenden Bergabhänge davor setzen Linien ins Bild. Aber zu sehen ist jenes Band nicht, das die Menschen zusammenhielt, das der Bierbrauer Anton aus Stuttgart geknüpft hatte an die junge Coiffeuse Anna aus Interlaken irgendwann zuvor.
Ich kann nicht verhindern, daß Johanna so viele Jahrzehnte übergeht, sich in Wiederholbares einspürt, in eine Zeit, da Gut und Böse klare Formen und Inhalte haben wollten.
Das waren meine schönsten Tage.
Sie rückt den Schemel etwas näher zum Tisch, wischt mit den Fingerkuppen ein paar Brosamen vom Wachstuch. Betrachtet Großmutter und Mutter, welche immer noch vor einer Hausfassade stehen, an der das verwitterte Schild hängt: Frisiersalon von Frau Müller-Brand / Parfumerie / Massage électrique. Ich lege meinen Kopf seitlich an Johannas Schulter, von hinten, aber nicht nur deshalb kann sie mich nicht sehen. Und sie schaut auf, streift wie blind hin und her zwischen der getünchten Wand und dem pastellgrün gestrichenen Küchenbuffet.
Melassenbrote brachte ihr die Großmutter Elise auch auf den Pausenplatz, während die Wäsche im Seifenwasser lag. Einmal im Monat – Elise neben dem Bauern auf dem Bock, Johanna, so oft sie konnte, hinten auf dem Wagen – besorgte Elise die Militärwäsche. Mit dem geliehenen Fuhrwerk ging es bis zum Hintereingang der Kaserne, hier wurden ihnen die zu waschenden Packen zugeworfen: fünfzig Leintücher, zweihundertfünfzig Kissenbezüge und gleichviel rotweißgestreifte Badehosen mit Bändchen, fünfhundert Badetücher – die Zahlen hatte Johanna beim Nachzählen gelernt. Im Keller des Erlen-Bauernhauses war Elises kleine Wäscherei, wo in riesenhaften Bottichen Wasser, Schmierseife und Wäsche wie in Teufels Küche brodelten. Wo Elise selbst in die gefährlich dampfenden Zuber stieg und mit Holzböden die Wäsche stampfte, was das Zeug hielt. Die ersten Male hatte Johanna kaum gewagt hinzusehen, zwischen abgespreizten Fingern hervorgeäugt und bezweifelt, daß die Großmutter in diesem Geköche nicht Schaden nehme. Jeweils gegen Abend häufte sich die saubere Wäsche auf der Matte vor dem Bauernhaus, hing bald schlaff von Pfahl zu Baum zu Pfahl, flatterte endlich. Manchmal im Winter war das Weiß kaum auszumachen. Nur die roten Streifen der Badehosen schlängelten sich im eisigen Wind. Mehrmals wöchentlich holte und brachte Elise zudem jede Menge Privatwäsche mit einem geflochtenen Kinderwagen. In ihm hatte sie auch ihr Enkel- und Patenkind Johanna an einem Februarsonntag im Jahre 1907 zur Taufe geschoben. Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, hatte der Pfarrer dem Täufling als Spruch zugedacht.
Zeit ist es endlich, um Wasser aufzusetzen für eine Wurst und zwei kleine Kartoffeln.
Eins aufs andere legt Johanna deshalb von dem, was vor ihr ausgebreitet liegt und sie erst zu einem Teil durchgesehen hat, und hält unverhofft ein abgeschnittenes Vaterbild in Händen. Auf dem Gegenstück ist Anna mit der neuerdings schulpflichtigen Johanna. Der Vater aber ist es gar nicht. Johanna staunt, erinnert sich keinesfalls. Auf der Fotografie mimt einer von Mutters Geliebten den Vater.
Johanna nimmt die Brille aus dem dicht gefältelten Gesicht, leckt mit der Zunge im Kreis die welken Lippen.
Die Vorstellung wirft eine Szene an die leere Küchenwand: Zuvorderst geht die füllige, pausbackige Großmutter Elise im schwarzen, bodenlangen Rock. Leicht in Rücklage hält sie sich am Kinderwagen fest. Sieh mal an, da rutscht sie plötzlich auf halbem Weg aus und läßt im Fallen den Korbwagen los, kreuzt fluchend Zeige- und Mittelfinger hinter dem massigen Rücken, derart allgegenwärtig ist sie noch, hockt mitten auf dem Pflaster und schreit, während der Wagen holpernd abwärts rollt und Hundegebell die gellenden Rufe übertönt und der Pate und die Eltern mit hastigen Bewegungen in die Bildfläche treten und Mamas fuchtelnde Gebärden sichtbar werden. Ja, es ragt die Kirche im Hintergrund hoch auf, und Atemfahnen wehen aus Mündern, und kahle Äste tragen Schneestreifen, und Pappa rennt längst, und gleich und aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Wagen kippen oder ungebremst in die Mauer prallen samt diesem frischgetauften Kind Johanna.
„Hannele“, sagt die gute Stimme des Vaters da, „wenn alles so einfach wäre, Hannele.“
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Literaturangaben:
GEISER, KATHARINA: ROSA IST ROSA. Erzählungen. Meridiane 118. Ammann Verlag, Zürich 2008. 224 S., 18,90 €.
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