Münchnen (BLK) – Im Februar 2010 ist im Carl Hanser Verlag „Die verrrückten Jahre“ von John Glassco erschienen.
Klappentext: Achtzehn Jahre alt, einen Freund und Vaters Geld im Gepäck: So bricht John Glassco auf nach Paris, um sich irgendwie mit Literatur zu beschäftigen. Doch schon nach einer Woche widmen sich die Freunde anderen Zielen: Alkohol, Sex und dem Kennenlernen von Prominenten. Glassco erzählt charmant und unverfroren in einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit aus der Zeit, in der Paris noch ein Fest fürs Leben war: Picasso, Gertrude Stein und James Joyce sind dort, und John Glassco verbringt seine Zeit in Hinterhöfen, Kneipen, Ballsälen und Bordellen. Sein autobiografischer Bericht ist ein herrliches, spontanes Zeugnis des literarischen Paris der zwanziger Jahre.
John Glassco ist1909 in Montreal/Kanada geboren und begann 1928 seine literarische Tätigkeit in Paris. Über sein späteres Leben in Kanada ist wenig bekannt, außer dass er Gedichte und Übersetzungen veröffentlichte. Er starb 1981.
Leseprobe:
©Carl Hanser Verlag©
Das Jules-César war ein zauberhaftes Hotel: weder komfortabel noch sauber oder warm, aber der Eigentümer ließ sich nie blicken, es gab immer reichlich Warmwasser, und außerdem hatte unser Zimmer, obschon fensterlos, ein Oberlicht über dem Waschbecken, und wenn man sich auf das Bidet stellte, konnte man in einen mittelalterlichen Innenhof sehen, wo Wellblechbahnen für Dächer angefertigt wurden. Das Zimmer kostete zwanzig Dollar pro Monat, und für fünfzehn Cents gab es das Frühstück im Bett.
Zunächst stellten wir fest, dass wir bei einem Dollarkurs von fünfundzwanzig Francs viel reicher waren als in Montreal. An dieser Stelle muss ich sagen, dass in Beschreibungen der Attraktivität von Paris der Wechselkurs nicht immer als wichtiger Faktor erscheint. Von wenig Geld gut leben zu können ist die beste Grundlage, um die Schönheit eines Ortes schätzen zu lernen, und ich glaube, wir haben Paris umso mehr genossen, da wir fast immer nach Lust und Laune essen und trinken konnten.
Ein weiterer Grund zur Freude war das Telegramm, das Graemes Bruder geschickt hatte, mit der Nachricht, dass er die Prüfung bestanden hatte, mithin also Absolvent einer akademischen Institution war.
In der ersten Woche kamen wir kein einziges Mal aus Montparnasse heraus. Wir zogen nur von einem Café und Restaurant in das nächste. Es war Anfang März, und die beheizten Terrassen waren die besten Orte, um dazusitzen und so zu tun, als würde man arbeiten. Arbeiten war für uns eher eine Pose als sonst etwas. Allerdings beendete ich „Conan’s Fig“ – der Titel ist nicht nur sinnlos, er hat überhaupt keinerlei Bezug zum Gedicht – und schrieb auch die ersten Zeilen von mehr als einem Dutzend anderer surrealistischer Gedichte, während Graeme sich wieder mit seinem Romanprojekt beschäftigte, das den Titel „The Flying Carpet“ tragen sollte. Aber es war weitaus amüsanter, den Schriftsteller zu spielen. Später stellte ich fest, dass es vielen anderen jungen Autoren ähnlich ging. Überhaupt ist Paris ein sehr heikles Pflaster für jemanden, der arbeiten will, wenn man nicht gerade phantasielos und ernsthaft ist.
Nach einer Woche fanden wir es allmählich anstrengend, niemanden zu kennen. Als wir eines Abends im Café Sélect saßen und ich hörte, wie am Nebentisch ein großer, freundlich aussehender grauhaariger Mann anderen Leuten als Adolf Dehn vorgestellt wurde, beschloss ich, ihn anzusprechen. Ich hatte ein Buch mit Lithographien von ihm gesehen, die ich bewunderte, vor allem eine mit dem Titel „Neun Huren“, deren Gesichter und Figuren von ekstatischer Gier, Grausamkeit und Lebenslust gezeichnet waren. Inzwischen hatte ich schon so viel getrunken, dass ich kühn genug war, um einen solchen Schritt zu unternehmen. Als Dehn aufbrach, lief ich ihm hinterher und sagte: „Mr. Dehn, mein Freund und ich sind gerade in Paris angekommen, wir kennen niemanden hier, nur Ihr Gesicht ist uns bekannt. Wir wollen ins Dôme gehen, würden Sie dort vielleicht etwas mit uns trinken?“
Er lächelte und sagte, mit Vergnügen, sehr gerne, schlug aber vor, wir sollten nach nebenan in den kleinen „tabac“ gehen, dort sei es nicht so voll. Lieber Adolf, ich danke Ihnen noch heute für Ihre Liebenswürdigkeit an diesem Abend, ohne Sie wären wir vielleicht noch lange ohne Freunde geblieben.
©Carl Hanser Verlag©
Literaturangabe:
GLASSCO, JOHN: Die verrückten Jahre. Abenteuer eines jungen Mannes in Paris. Hanser Verlag, München. 336 S., 21,50 €.
Weblink: Carl Hanser Verlag