Ein Nest irgendwo in der ostdeutschen Einöde, kurz vor der polnischen Grenze. Es war nur ein Dorf gewesen, bevor die NVA dort Kasernen errichten ließ und eine Plattenbausiedlung für die Offiziere und ihre Familien. Unwirklich stehen die Betonquader in der Landschaft, das Stettiner Haff ist nicht weit entfernt von dem Dorf, das nun zur Stadt befördert wird, das Haff, über das die Einheimischen witzeln, es sei so flach, dass man sich nicht einmal darin ertränken könne, weil man, vom langen Waten erschöpft, schon vorher aufgebe.
Soldaten prägen das Bild der Stadt, nachts gibt es gelegentlich Armeeübungen, und sonntags stehen die Offiziere in Pantoffeln in den Hauseingängen und rauchen, ohne ihre Bäuche einzuziehen. Hier wachsen die beiden Schwestern, die im ganzen Roman namenlos bleiben werden, als Offizierstöchter auf. Die Erzählerin steht immer ein bisschen im Schatten ihrer entschlossenen älteren Schwester. Wieder und wieder lässt sie ein Bild in ihrer Erinnerung hochsteigen, das beispielhaft ist für die Beziehung zwischen den beiden: Ihre Schwester hebt sie auf den Gepäckträger ihres Fahrrads, schwingt sich selbst in den Sattel und fährt los. Es scheint eine Kraft und Energie von ihr auszugehen, die andere mitreißt, die für zwei reicht, mindestens.
Umso mehr verwundert es, dass all diese Kraft verloren scheint, als die Mauer fällt. Während alle ihre Mitmenschen in Aufbruchstimmung sind, Pläne machen und die Stadt verlassen, bleibt sie, heiratet—nicht eben aus Liebe—gründet eine Familie. Glücklich wird sie nicht. In einer Gesellschaft, in der plötzlich alles möglich scheint, ist sie unfrei. Sie erstellt Aufgabenpläne, nur um sich an ihnen durch den Tag zu hangeln, tut Dinge nicht um ihrer selbst willen, sondern um sie getan zu haben.
Nebenher hat sie ein Verhältnis mit einem ehemaligen NVA-Soldaten, den sie noch aus Vorwendezeiten kennt. Auch hier erscheint sie merkwürdig kraft- und leidenschaftslos. Sie steigert sich in den Gedanken hinein, dass ihr ein anderes Leben bestimmt gewesen wäre, bestünde die DDR noch. Diese Gedanken lassen beim Leser einen Eindruck dieses Staates als einer riesigen Maschine entstehen, die nach bestimmten Gesetzen funktioniert, dem Einzelnen kaum Entscheidungsspielraum lässt, aber dennoch ein als gelungen empfundenes Leben „produziert“. Ein Eindruck, der zum eher technischen Menschen- und Weltbild des sozialistischen Staats sehr gut passt. Geworfen in eine Gesellschaft mit unendlich vielen Entscheidungsmöglichkeiten, mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an erfüllbaren Träumen, stagniert die ältere Schwester, ist gelähmt, und die jüngere glaubt den Grund dafür zu kennen: „Das oft fremde, unwillige Gefühl in den Jahren nach der Revolution kam auch daher, daß man nun, nachdem der eigene Wunschvorrat erschöpft war, nicht wußte, welcher Art von Träumen in dieser anderen Gesellschaft nachzuhängen war.“
Dann kommt der Sommer, in dem sich alles ändern wird. Zuerst trennt sich die Ältere von „dem Soldaten“, wie sie ihren Liebhaber—auch er bleibt namenlos—immer noch nennt, obwohl er längst Familienvater ist und es das Land, dem er diente, nicht mehr gibt. „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ habe sich diese Entscheidung in ihr festgesetzt, wird sie von ihrer Schwester zitiert. Aber sie hat sich auch für etwas Anderes entschieden: Dass die Ältere nach New York, als Stadt Inbegriff der Freiheit, fliegt, um sich dort das Leben zu nehmen, erscheint verständlich, nachvollziehbar, unausweichlich, so eindringlich erzählt Julia Schoch. Dieser Gedanke hat gar nichts Irrationales oder Verzweifeltes, wenn sie die Jüngere das Leben ihrer Schwester nachzeichnen lässt, und gerade diese Selbstverständlichkeit, mit der die Ältere zu diesem Schluss kommt, ist ernüchternd, ja sogar erschreckend.
Frau Schoch benutzt eine klare, strukturierte Sprache und hat ein Gefühl für Stimmungen, die über Landschaften oder Szenen hängen können wie Wolken. Ohne sich offensichtlich um Formulierungen zu bemühen, hängt ihrer Sprache durchaus etwas Poetisch-Melancholisches an, ihrer Sprache, die der Leser so schnell nicht aus dem Kopf bekommt.
Von Tina Rath
Literaturangabe:
SCHOCH, JULIA: Mit der Geschwindigkeit des Sommers. Roman. Piper Verlag, München 2009. 150 S., 14,95 €.
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