MÜNCHEN (BLK) – Im Februar 2011 erschien beim Münchener Hanser Verlag „Heile Welten“. Astrid Geisler und Christoph Schultheis beleuchten hierin die rechtsradikale Szene in Deutschland.
Klappentext: Rechtsradikale erkennt man längst nicht mehr nur an Springerstiefeln und kahlrasierten Schädeln. Die Rechte hat ein neues Gesicht: Sie sitzen im Elternbeirat, kaufen Gemüse aus der Region und nennen ihren Sohn Siegfried. Astrid Geisler und Christoph Schultheis haben in einer Subkultur in Deutschlands Gesellschaft recherchiert, die sich nach außen bürgerlich gibt, aber im Innern für Nationalismus und Antisemitismus kämpft. Sie gewinnt Anhänger, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen: in der Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut, in ihren Ressentiments, die sie gegen Ausländer hegen. Hier lauert eine versteckte Gefahr.
Die taz-Redakteurin Astrid Geisler wurde 1974 geboren und studierte Diplom-Journalistik in München. Die freie Journalistin arbeitete zeitweise auch für die Agence France-Presse (AFP), die führende französische Nachrichtenagentur.
Der Journalist Christoph Schultheis ist hauptsächlich für den BILDblog bekannt, den er zusammen mit Stefan Niggemeier ins Leben rief. Der BILDblog ist ein journalistischer Blog, der sich mit der deutschsprachigen Presse auseinandersetzt und sie kritisch beleuchtet.
Leseprobe:
©Hanser©
VORWORT
„Guten Abend – hier ist noch genug Platz für Sie!“ Mit dieser freundlichen Willkommensgeste hatten wir nicht gerechnet, als wir an einem Freitagabend unangekündigt bei einem Stammtisch rechtsextremer Ufologen in einem gutbürgerlichen Gasthaus im Berliner Süden vorbeischauten. Sah man uns denn nicht sofort an, dass wir hier nicht dazugehörten? Dasselbe Erlebnis bei einem Treffen islamfeindlicher Aktivisten in Köln: Erst als die Teilnehmer ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, dass der vermeintlich neue Mitstreiter ein Reporter sei, war es vorbei mit der kumpelhaft zutraulichen Stimmung.
So ist das nämlich. Wer bei extrem rechten Gesinnungen nur an NPD, Springerstiefel, Reichskriegsflaggen und Hakenkreuzschmierereien, an brutale Skinheadattacken auf Ausländer und schauerliche Neonaziaufmärsche denkt, der übersieht das Eigentliche. Der Begriff „Rechtsextremismus „ suggeriert politische Subkultur und Außenseitertum. Was am (rechten) Rand der Gesellschaft passiert, erscheint extrem weit weg vom eigenen Leben.
Unterstützen Sie unsere Redaktion, indem Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen kaufen! Vielen Dank!
Doch wer sich mit Rechtsextremismus in diesem Land befasst, findet sich häufig schneller als vermutet auch in der bürgerlichen Mitte wieder: bei Menschen, die sich vehement von Neonazis und deren Hitlerkult distanzieren, aber zum Teil doch ähnlich radikale Ansichten vertreten. Bei Leuten, in deren Brieftasche man einen SPD-Mitgliedsausweis erwarten würde, aber keinen „Reichsbürger-Pass“. Was rechtsextrem genannt wird, entsteht ganz offensichtlich auch mitten unter uns – und dringt nicht bloß von irgendwoher in den heilen Mainstream ein. Es gibt längst Orte, in denen Neonazis als anständig gelten, ganze Landstriche, in denen sie für die Mehrheit zum Straßenbild gehören. Keine kahlrasierten Taugenichtse in Bomberjacken, sondern Leute, die Arbeit haben und sich für die Gemeinschaft engagieren. Alltag in Deutschland.
Was ist schon rechtsextrem und was noch ganz normal? Was ist noch rechtsextrem und was schon ganz normal? Im hektischen Medien- und Politikgeschäft bleibt für solche Fragen häufig keine Zeit. Hier die NPD und die Neonazis, da die rechtschaffenen Bürger. Das war’s.
Schwierig wird die Grenzziehung, wenn man genauer hinschaut: Keiner würde sich selbst ausländerfeindlich oder rassistisch nennen, wo er doch nur „islamkritisch“ ist oder findet, dass Thilo Sarrazin nicht ganz unrecht hat. Gegen Minarette sind in Deutschland nicht nur Neonazis. Und Neonazis engagieren sich längst auch für Umweltschutz. Nicht nur NPD-Kandidaten schimpfen auf die korrupten Versager in den Parlamenten. Und wer denkt bei Begriffen wie „Meinungsfreiheit“ oder „Kinderschänder“ schon an rechtsextreme Propaganda?
Es vergeht kaum ein Monat, in dem in Deutschland nicht irgendwo ein neues Konzept gegen Rechtsextremismus vorgestellt, diskutiert und vielleicht sogar in die Tat umgesetzt wird. Doch was ist besser geworden, seit im Oktober 2000 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit viel Pathos den „Aufstand der Anständigen“ ausrief? Nichts. Das sagen heute selbst jene, die mit großer Überzeugung und unter beträchtlichem persönlichem Risiko die Demokratie gegen rechtsextreme Agitation Zu verteidigen versuchen. Die Mediendebatte über Rechtsextremismus ist klinisch tot, und niemand kann mehr die reflexhafte Betroffenheitsrhetorik der Politiker hören. Alles scheint tausendmal gesagt. Das Interesse und der Wille zur Empörung sind geschrumpft. Selbst der Grünen-Politiker Jürgen Trittin sieht Deutschland in einer „glücklichen Situation“, weil es nicht mal „organisierte rechtspopulistische Bewegungen“ gebe. Heile Welt.
Die Parole vom „Aufstand der Anständigen“ haben Rechtsextreme inzwischen für sich vereinnahmt. Die NPD Mecklenburg-Vorpommern wirbt im Internet mit einer gleichnamigen Ballade für ihre Ideologie. Und wenn Moscheegegner in Köln-Ehrenfeld gegen den Bau einer „Großmoschee“ protestieren, ruft ihr Anführer ins Mikrofon: „Hier findet im Herzen von Ehrenfeld ein Aufstand der Anständigen statt!“ Der Redner ist ein Rechtsanwalt, der erst in der CDU aktiv war, später bei den „Republikanern“. Jetzt leitet er eine Bürgervereinigung mit dem unverfänglichen Namen „Pro Köln“.
Dramatisch ist nicht nur das, was offensichtlich extrem ist. Denn das Extreme lässt sich leicht stigmatisieren, das Alltägliche hingegen kaum bekämpfen. Und was normal geworden ist, taugt nicht mehr für Schlagzeilen. Heute ist die Schwelle sehr hoch, die Rechtsextreme überschreiten müssen, um überhaupt noch breitere Aufmerksamkeit zu erfahren oder Empörung auszulösen. Und die Aufregung um die politisch unkorrekten Thesen Thilo Sarrazins hat auch etwas Heuchlerisches: Wen hätte Sarrazin geschockt, wäre er ein Hinterbänkler und kein Bundesbank-Vorstand und prominenter SPD-Politiker gewesen?
Wer verstehen will, wie etabliert, integriert, cool, trendig, allgegenwärtig, bürgerlich und vertraut unsere extrem rechten Mitbürger und ihre Ansichten sind, muss sich mit eben jenem Alltag abseits der Schlagzeilen befassen. Wieso driftet ein Gymnasiast aus einer wohlhabenden Familie in Süddeutschland nach rechts ab? Welche Konsequenzen hat es, wenn der Sohn einer ostdeutschen Kosmetikerin von einem Rechtsextremen verprügelt wird? Warum können Neonazis in einem ostdeutschen Dorf ihre Gegner ungestört terrorisieren, obwohl der Bürgermeister ein Polizeikommissar ist? Aus welchem Grund sammelt die Ehefrau eines NPD-Lokalpolitikers in ihrer Kleinstadt zerbrochene Flaschen auf? Was bringt es einem Handwerker, wenn er sich in einer Internet-Community als Rassist bezeichnet? Was haben CDU-nahe Islamhasser mit der NPD gemein?
Wir sind für dieses Buch durch Ost- und Westdeutschland gereist: nach Ostvorpommern und nach Köln, nach Delmenhorst, Halberstadt und „Schönstadt“, einen Ort in Süddeutschland, dessen Namen wir zu anonymisieren versprachen. Aber wir hätten auch überall sonst in Deutschland hinfahren können und wären doch wieder in jener Zone der Gesellschaft angekommen, die gerne als „rechter Rand“ bezeichnet wird.
Noch so ein Buch über Rechtsextreme also? Eben nicht! Wir haben uns auf den Weg dorthin gemacht, wo sich gerade keine Kamerateams drängten – nicht um Alarm zu schlagen, sondern um neue Einblicke zu bieten in das rechte Alltagsleben in Deutschland. Willkommen in der irren, kleinen Parallelwelt nebenan!
©Hanser©
Literaturangabe:
GEISLER, ASTRID/SCHULTHEIS, CHRISTOPH: Heile Welten. Rechter Alltag in Deutschland. Hanser Verlag, München 2011. 224 S., 15,90 €.
Weblink