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Momentaufnahmen vom Tod

Judith Hermann erzählt in „Alice“ von Sterbenden und Zurückgebliebenen

© Die Berliner Literaturkritik, 08.05.09

Von Caroline Bock

Mit „Sommerhaus, später“ landete sie Ende der 90er Jahre einen Überraschungserfolg. Vom „Fräuleinwunder“ in der deutschen Literatur sprach das Feuilleton damals etwas gönnerhaft. 2003 veröffentlichte Judith Hermann einen mit Spannung erwarteten zweiten Band mit Erzählungen, „Nichts als Gespenster“, der später Kinostoff wurde. Sechs Jahre danach erscheint nun ihr neues Buch: „Alice“, fünf Geschichten über das Sterben. Wieder ist das Interesse groß. Die Startauflage liegt bei 100 000 Exemplaren.

Früher war die Berlinerin – wohl unbeabsichtigt – eine Stimme der „Generation Golf“, die das Lebensgefühl der 30-Jährigen traf. Dass sie jetzt mit 38 ein so ernstes, endgültiges Thema wählt, kommt für manche überraschend. Es scheint, als sei mit „Alice“ eine Trilogie abgeschlossen. Vielleicht ist es sogar ein Zeichen für das Ende des Ironie-Zeitalters, das die Popkultur der vergangenen Jahre geprägt hat. Das Buch sei keine Trauerarbeit gewesen, erklärte Hermann im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. „Es geht darin übrigens weniger um die Sterbenden als um die Zurückbleibenden. Um die Lebenden.“

Protagonistin Alice ist so alt wie ihre Schöpferin, die sich zum autobiografischen Hintergrund bedeckt hält. Die Episoden, die nacheinander gelesen werden sollten, handeln von Männern, die sterben oder gestorben sind. Zu Beginn, im Kapitel über „Micha“, ist Alice in Zweibrücken, wo ihr Ex-Geliebter dem Tod geweiht ist. In „Conrad“ stirbt ein väterlicher Freund in Italien, in „Richard“ ist Alice wieder in Berlin. In „Malte“ begibt sie sich auf die Spuren ihres schwulen Onkels, der sich noch vor ihrer Geburt das Leben nahm. In der letzten Erzählung hat Alice ihren Lebensgefährten verloren. Dass dieser Raymond heißt, dürfte eine Verbeugung vor dem amerikanischen Minimalisten Raymond Carver sein.

Präzise und zugleich minimalistisch ist Hermanns Stil. Die Zeichnungen der Figuren sind eher vage, scheinbar Unwichtiges beschreibt Hermann ganz genau.

Präzise und zugleich minimalistisch ist Hermanns Stil. Die Zeichnungen der Figuren sind eher vage, scheinbar Unwichtiges beschreibt Hermann ganz genau. Etwa, als Alice Schubladen in einer Ferienwohnung in Zweibrücken öffnet: „In der Besteckschublade klapperten unzählige kleine Löffel aus Hustensaft-Packungen, Eislöffelchen, Plastiklöffel; messies, sie hatte es halblaut vor sich hin gesprochen. Unter dem Videorekorder Kassetten mit selbst beschrifteten Etiketten, zweifelhaftem Inhalt. In den Fächern der Schrankwand Bastelbögen, Scheren und leere Klebestifte, es wurde immer deprimierender, sie hatte sich zwingen müssen, damit aufzuhören.“

Es sind Details und Momente, die beim Lesen hängen bleiben. In einer Jackentasche von Raymond findet Alice ein Stück Mandelhörnchen, ein trauriges Andenken. An einer anderen Stelle ist ein Insekt im Latte-Macchiato-Schaum ertrunken. Aus der Tiefkühltruhe einer Tankstelle holt sich Alice ein „Dolomiti“-Eis, während andernorts gerade Conrad stirbt. „In einem heißen Zimmer am Ende eines Ganges mit gleißendem Licht hatte sein Herz erst geflimmert und dann aufgehört zu schlagen, einfach so, und kein auf Wiedersehen, das war es gewesen“. Man muss diese Fallhöhe zwischen Banalitäten und Existenziellem mögen und sich darauf einlassen – dann bekommen Hermanns Erzählungen etwas Wahrhaftiges, Tröstliches.

HERMANN, JUDITH: Alice. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 189 S., 18,95 €.


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