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Morde nach Rezept

„Gefüllte Siebenschläfer“ von Christoph Wagner

© Die Berliner Literaturkritik, 07.02.08

 

INNSBRUCK / WIEN (BLK) – Christoph Wagners „Gefüllte Siebenschläfer. Ein Carozzi-Krimi“ erschien im Herbst 2007 beim Haymon Verlag.

Klappentext: Mario Carozzi, Archäologe und nach mehrjährigem Mexikoaufenthalt Maya-, Azteken- und vor allem Chiliexperte, kehrt nach Europa zurück, wo er sich mit Gelegenheitsjobs in Heimatmuseen über Wasser hält. In der adriatischen Inselstadt Balaor bewirbt er sich nun als Leiter des dortigen Lapidariums.

Carozzi soll diese bislang unscheinbare Sammlung antiker römischer Grabsteine in ein Profit-Center verwandeln. Und will dort – gemeinsam mit der befreundeten Köchin Gilda – Gerichte nach den Rezepten des altrömischen Feinschmeckers Apicius servieren. Doch sein Aufenthalt auf der Insel wird begleitet von mysteriösen Todesfällen und seltsamen Ereignissen, die ihn allmählich selbst in arge Bedrängnis bringen…

Der zweite Kriminalroman des bekannten Restaurantkritikers und Gastrosophen Christoph Wagner glänzt durch die lebendige Schilderung der Küstenlandschaft zwischen Grado und Rovinj mit all ihrer verzaubert-abgründigen Atmosphäre ebenso wie durch tiefschwarzen Humor und scharfzüngige Beobachtungsgabe – und verführt mit höchst ausgefallenen Rezepten.

Christoph Wagner, geboren 1954, lebt als Autor, Publizist und Gastrosoph in Wien, Linz und Kindberg. Er studierte Germanistik, Anglistik und Kulturelles Management. Seit über 25 Jahren schreibt Wagner Gourmetkolumnen und Restaurantkritiken. Zahlreiche Bücher zu kulinarischen und kulturhistorischen Themen wurden von ihm verfasst, außerdem 2002 „Schattenbach“, der erste Kriminalroman rund um Doktor Carozzi.

 

Leseprobe:

© Haymon Verlag ©

 

Das Lokal war spätvormittäglich schütter besetzt. Es war noch zu früh fürs Mittagessen, und die wenigen Gäste begnügten sich mit Espresso, Campari oder einem Gläschen Weißwein. Ein älterer Mann mit Schnapsnase und einem passenden lila Schirmkäppchen, das die Aufschrift „Il Tubo Storto“ trug, vertiefte sich in ein Würfelspiel. Sein Kontrahent war ein alter, rotgesichtiger Seebär in buschgrünem Hemd und mit einer leuchtfarbenen Matrosenmütze, die wie ein umgestülptes Stanitzel aussah. Die beiden würfelten zwar nur um ein paar Münzen, ihre Gesichter waren jedoch von einer mit so viel Spannung aufgeladenen Bewegungslosigkeit, als spielten sie um Leben und Tod.

Weiter hinten im Raum versteckte ein dritter, für das Ambiente eher untypisch gut gekleideter Gast sein Antlitz hinter einer großflächigen Sportzeitung und lugte, als ich eintrat, misstrauisch über den Blattrand.

Ich nahm auf einem der mit Bast bespannten Holzhocker Platz und sah, wie hinter der Macchinetta ein Mann auftauchte, dessen gewaltiges, von schütteren, grauen Haarbüscheln gesäumtes Haupt auf einem Rumpf saß, der fast noch breiter als die Kaffeemaschine war.

„Einen Ristretto“, sagte ich.

„Zum ersten Mal in Balaor?“, erwiderte der Koloss und kratzte sich hinter seinem Ohr.

„Ja, aber dafür vielleicht für länger.“

„Schön für Sie. Balaor ist eine schöne Stadt.“

Als er aufgehört hatte sich zu kratzen, kam hinter seiner bis an die ingeransätze behaarten Hand ein goldener Ohrreif zum Vorschein, in dessen Mitte ein meerblauer Topas glänzte. Unwillkürlich kratzte auch ich mich an meinem Ohrenläppchen, doch mein bescheidener Indianerohrring verblasste gegen den Ohrbehang meines Gegenübers, der aus einem Piratenschatz hätte stammen können, wie billiger Glasschmuck.

Der Koloss wandte sich um und machte sich hinter der Macchinetta zu schaffen, die er in Windeseile in eine aus allen Öffnungen fauchende Höllenmaschine verwandelte, die nach minutenlangen Blähungen und Krämpfen tatsächlich ein Tässchen Mocca kreißte.

„Sie haben Glück oder Spürsinn oder beides, junger Mann. Sie sind auf Anhieb in die beste Kneipe der Stadt gefallen“, wandte sich der Würfelspieler mit dem leuchtenden Stanitzel an mich, während der Koloss mit dem Goldstück im Ohr meinen Kaffee servierte.

 

„Schön, wenn man als Wirt so zufriedene Stammkunden hat“, sagte ich und nahm einen Schluck.

„Boldo ist nicht der Wirt“, widersprach mir Il Tubo aufs heftigste.

„Die Kneipe gehört Gilda, seiner Tochter. Sag ihm, wer du bist, Boldo.“

Der Koloss pflanzte sich vor mir auf und dehnte Mund und Backenknochen zu einem wohlwollenden, sonnigen Lachen.

„Ich bin Arcimboldo Scaramuzza, Urenkel von Sebastiano Scaramuzza, dem großen Revolutionär, Dichter und Patrioten von Balaor.“

„Sei nicht so bescheiden, Boldo. Er hat das Talent von seinem Urgroßvater geerbt“, warf Tubos Würfelpartner ein. „Boldo ist unser größter Poet hier auf der Insel. Er kann schneller reimen als sich der Wind dreht.“

„Wenn Sie ihn schön darum bitten“, schalmeite Il Tubo, „dann gibt Boldo Ihnen vielleicht sogar eine kleine Kostprobe.“

Mir war weder nach Bitten noch nach Reimen zumute, und so brachte ich mich fürs Erste um den Kunstgenuss. Dafür erschien Gilda, die anmutige Erscheinung aus den Küchennebeln, die mich hierher geführt hatten, und stellte auf jeden der drei besetzten Tische einen Teller voll gebackener Ährenfische und auf einem Extratellerchen jede Menge Limonenscheiben dazu.

Gilda war schwarz gelockt, eher mager und, was ihr Erscheinungsbild betraf, so ziemlich das exakte Gegenteil ihres Vaters. Sie war keine wirkliche Schönheit, strahlte jedoch in Gesicht und Gestik jene subtile Erotik aus, die vielerlei anzudeuten vermochte, aber nur wenig davon verriet.

„Vom Haus“, sagte Gilda kurz angebunden. Ich fand, dass ihr Name nicht zu ihrem Timbre passte. Gilda, das klang nach Koloratur und großer Oper, aber ihre Stimme hörte sich eher nach Nachtclub und einsamem Herzen an.

Gilda ging mit energischen Schritten wieder in ihre Küche zurück. Ich überlegte inzwischen, ob mein Espresso wirklich die ideale Begleitung zu Ährenfischen war. Scaramuzza schien meine Gedanken erraten zu haben und stellte mir einen gut gefüllten Tonkrug auf den Tisch.

„Malvasia“, sagte er und ließ die zahlreichen Lachfältchen zwischen seiner gar nicht so unelegant geschwungenen Augenpartie und dem leichten Kropfansatz vibrieren, dass es nur so eine Freude war. „Passt besser zum Fisch als Kaffee.“

Ich nahm hastig den letzten Schluck von meinem Ristretto, spülte den herben Geschmack mit etwas Malvasia hinunter und sah mich fragend nach einem Besteck um.

Il Tubo, der mich dabei beobachtete, schüttelte den Kopf.

„Kein Besteck“, sagte er mit Nachdruck und schnappte nach einem Fischlein von seinem Teller und führte es zwischen Daumen und Zeigefinger an seine Lippen, bevor er es, vom Kopf bis zur Schwanzflosse, lustvoll flutschend verschwinden ließ.

„Jetzt Sie“, ermunterte er mich.

„Den Kopf auch?“, fragte ich zögerlich.

„Runter damit. Ist ja genügend Malvasia zum Nachspülen da.“

Ich fasste mir ein Herz, schob das Fischlein halb in den Mund und biss es in der Mitte durch.

„Jetzt, wo du den Kopf geschafft hast, wirst du den Schwanz auch noch schlucken“, grölte der Buschgrüne mit dem Leuchtstanitzel.

Die kleinen Geschosse waren tatsächlich so kross, dass sie eher nach Salzgebäck als nach Fisch schmeckten und ordentlich durstig machten.

„Früher hab’ ich davon ganze Netze voll gefangen“, bemerkte Scaramuzza nicht ohne Stolz. „Aber seit die Genossenschaft die Lizenzen reduziert hat und ich mit meinem alten Kahn nur noch Inselrundfahrten machen darf, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Nachschub in der Pescheria am Fischereihafen zu besorgen.“

„Hast du eigentlich schon gehört, dass es Lukobran erwischt hat? Heute Vormittag vor der Präfektur.“ Il Tubo, der merkte, dass er Scaramuzza damit offenbar eine Neuigkeit überbrachte, wiegte mit wichtiger Miene seinen dunkelvioletten Zinken auf und ab.

„Den Commendatore? … Was heißt das, erwischt?“

„Ist dem Erzengel Michael in die Arme gelaufen, der feine Herr. Und der hat ihm gleich einen Platz in der Hölle reserviert.“

„Du meinst, er ist – tot?“

„Tu nicht so, als ob du gerührt wärst, Boldo. Er hat uns alle oft genug ins Ausgefischte geschickt.“

„Was soll der Fremde von euch und von Balaor denken, wenn ihr so über einen Toten redet?“ Gilda hatte sich, ohne dass es jemandem aufgefallen war, wieder aus der Küche zurückgemeldet. „Was machen Sie auf unserer Insel,“ wandte sie sich dann, um eine Spur freundlicher, an mich, „Urlaub?“

„Nein, keineswegs“, erwiderte ich. „Ich habe mich für die Position eines archäologischen Leiters des Lapidariums von Balaor beworben.“

„Das Lapidarium von Balaor“, wiederholte Gilda, und ihre rauchige Stimme bekam etwas unangenehm Schnarrendes. „Sie meinen doch nicht etwa den Steinhaufen hinter meiner Küche? Der braucht keinen Leiter, sondern allenfalls einen Leiterwagen, um den ganzen Krempel abzutransportieren. Dann könnten wir endlich hinter unserem Lokal einen kleinen Garten eröffnen. Angesucht habe ich weiß Gott oft genug, doch die Präfektur hat jedes Mal abgelehnt. Und was wollen Sie jetzt daraus machen – ein Freilichtmuseum?“

„Jedenfalls ist von der Präfektur der Posten eines Direktors ausgeschrieben worden“, erwiderte ich, während ich mir unter ständiger Beobachtung von Tubo und seinem Genossen folgsam ein Ährenfischchen nach dem anderen in den Mund schob. Ich begann allmählich Gefallen an den knusprigen kleinen Torpedos zu finden, und der leicht prickelnde Malvasia trank sich dazu wie Champagner.

Gilda beobachtete mich mit abwartender Neugierde, zumindest ließ sie mich keine Sekunde lang aus den Augen. Fand sie mich etwa interessant, oder erhoffte sie durch mich etwas über die Pläne der Präfektur herauszubekommen?

„Ich bin zufällig auf das Angebot gestoßen,“ sagte ich, „als ich mich um den Posten des Direktors der Ausgrabungen von Aquileia beworben habe, der damals noch – vakant war.“

„Wäre wohl etwas ruhmreicher gewesen als das Lapidarium von Balaor“, erwiderte Gilda. „Schade, dass man Sie nicht genommen hat.“

„Du musst den Herrn mit deiner Pasta d’Angelo trösten. Die ist besser als jeder noch so gute Museumsjob“, mischte sich Scaramuzza in unser Gespräch ein und fügte sachkundig hinzu: „Meine Tochter behandelt die Pasta, als ob sie ein Risotto wäre.“

„Nudeln wie einen Risotto? – Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Ach, er versteht was vom Kochen, der Professore?“, fragte Scaramuzza erfreut.

„Kein Professore“, widersprach ich ihm, „nur Dottore, oder schlicht Doktor.“

„Niemand, der etwas vom Kochen versteht, und mag er auch ein gelehrter Dottore sein, vermag sich vorzustellen, dass man Capellini d’Angelo tatsächlich wie einen Risotto zubereiten kann. Doch wenn man die Rezeptur erst einmal so beherrscht wie meine Gilda, dann saugt die Pasta das Meer auf, und die Pasta bewegt sich wie nach den Gezeiten …“

„Er wird’s schon von alleine merken“, unterbrach Gilda ihren Vater mit töchterlicher Strenge und verschwand in der Küche.

„Ist dir heiß?“, fragte Scaramuzza, der mich plötzlich duzte.

„Wie kommen Sie drauf?“

„Du schwitzt. Und außerdem siehst du nicht aus wie jemand, der an das Meer gewöhnt ist.“

„Ich habe etliche Jahre in Mexiko verbracht“, widersprach ich.

„Vermutlich im Gebirge“, entgegnete Scaramuzza mit einem listigen Lachen. „Wie heißt du eigentlich?“

„Mario Carozzi.“

„Klingt nicht sehr mexikanisch, oder?“

„Geboren bin ich in Südtirol, in der Nähe von Naturns.“

„Hab ich es nicht gesagt, dass du aus den Bergen kommst? Ich habe es an deinen Augen abgelesen. Eure Fische leuchten nicht! Wenn du im Meer das Licht der Sonne ausknipst, leuchten sie alle, von der kleinsten Qualle über die Seeschnecken und Heuschreckenkrebse bis hin zu den Hummern und den Langusten. Alle leuchten sie. Selbst die Meereswürmer leuchten. Knipse einmal in einem Gebirgssee das Licht aus, Carozzi, und du wirst sehen, dass ich recht habe. Nichts leuchtet da. Und dieses allgegenwärtige unterirdische Leuchten, das auch Menschenaugen zum Leuchten bringen kann, das fehlt euch Leuten aus dem Gebirge.“

„Bei uns leuchtet dafür sonst einiges“, widersprach ich beleidigt.

„Ja, Glühwürmchen“, höhnte Scaramuzza.

„Viel mehr als nur das. Noch nie was von Alpenglühen gehört?“

Scaramuzza kratzte sich erneut hinter seinem Ohrring.

„Jetzt hast du mich alten Fischersmann aber kalt erwischt. Von Alpenglühen verstehe ich nun wirklich nichts. Dafür muss ich mich wohl mit einem kleinen Verslein entschuldigen.“

„Gut gemacht, junger Mann“, applaudierte Il Tubo zwischen zwei hastig genommenen Schlückchen Malvasia. „So schnell rückt Boldo sonst nicht mit seinen Gedichten raus. Scheinst ihm sympathisch zu sein.“

Scaramuzza warf sich inzwischen vor seiner Macchinetta in Pose, und seine Augen blitzten dabei, als wäre er selbst einer der Leuchtfische, von denen er gerade gesprochen hatte.

„Das Meer“, sagte er. „Das Gedicht heißt: Das Meer.“

„Das kennen wir“, kicherte der Buschgrüne mit dem Leuchtstanitzel.

„Aber keine Angst: Es ist kurz und eines seiner besten.“

Scaramuzza nahm sicherheitshalber einen Schluck Malvasia und atmete tief ein, als wolle er eine große Bassarie intonieren. Was er dann mit volltönenden Stimmbändern und einer dunklen, gutturalen Färbung, wie sie für den balaoranischen Inseldialekt charakteristisch ist, vorbrachte, hörte sich auch durchaus wie eine Arie an:

 

Ich spür das Meer, doch seh ich’s nicht,

Ich hör wohl, wie die Welle bricht,

Ich riech wohl Algen in der Gischt

Und neide dem nichts, der drin fischt.

Das feuchte Salz netzt mir die Lippe.

Ich schmeck’s selbst, wenn am Wein ich nippe.

Die Düne reflektiert das Licht.

Ich spür das Meer, doch seh ich’s nicht.

„Applaus, Applaus!“, feuerte Il Tubo die Runde an. Doch kaum klatschten die ersten Hände, winkte Scaramuzza auch schon wieder ab, als wolle er noch eine Zugabe geben.

„Ich riech das Meer, ich riech das Meer“, setzte er noch eine kecke kleine Coda nach, „ich riech es von der Küche her. Los, Gilda, du bist dran!“

Gilda kam mit einer großen Steingutschüssel hinter dem Tresen hervor, die bis weit über den Rand mit Nudeln gefüllt war.

„Konoba alla Fortuna proudly presents“, deklamierte Scaramuzza mit dem gespielten Pathos eines Zeremonienmeisters, „Capellini d’Angelo al Risotto di mare.“

Geschickt verteilte Gilda mit einer Nudelzange den Inhalt der dampfenden Schüssel auf mehrere tiefe Teller. Den von Scaramuzza stellte sie auf den Tresen.

„Das sind Nudeln, das ist kein Risotto“, wandte ich skeptisch ein.

„Hüte deine Zunge, Mann aus dem Gebirge, und koste erst einmal!“ Während Gilda aus dem Tonkrug Malvasia nachschenkte, zog Scaramuzza, noch im Stehen, einen ärmellangen Nudelstrang an einer Gabel wie ein Schiffstau aus dem Schüsselrumpf hoch und ließ ihn in Sekundenschnelle in seinem Schlund verschwinden.

„Was schmeckst du, Carozzi?“, fragte er, nachdem er seinen Rachen wieder frei hatte.

Ich wickelte eine Engelshaarsträhne um meine Gabel, allerdings eine wesentlich fragilere als Scaramuzza, ließ die Nudeln auf meiner Zunge leicht anschmelzen und fühlte mich plötzlich, als wäre ich wieder in Mexiko.

„Ihr seid ganz schön freigiebig mit Chilis hier in Balaor“, sagte ich, durchaus positiv überrascht.

„Du meinst die Peperoncini“, sagte Scaramuzza, der mit meiner Antwort sichtlich nicht ganz zufrieden war. „Aber jetzt los, sag schon, was schmeckst du noch?“

„Allerlei“, antwortete ich arglos. „Etwas Knoblauch, Tomaten, Basilikum, ziemlich viel Olivenöl und natürlich Tintenfische. Aber nichts von einem Risotto.“

„Na, was empfindest du wirklich, Carozzi? Oder hast du einen Geschmack wie ein Schwamm, wie ein Fisch ohne Nerven und ohne Hirn? Wozu, glaubst du, habe ich zuerst extra für dich mein Gedicht aufgesagt? Also, du schmeckst …“

„… das Meer?“, fragte ich zögerlich.

„Gewonnen, gewonnen“, wieherten Il Tubo und das leuchtende Stanitzel unisono.

„Und warum schmeckst du das Meer?“, fragte Scaramuzza so ungeduldig, dass er sich die Antwort auf diese Frage lieber gleich selbst gab. „Weil Gilda die Pasta wie einen Risotto gerührt und jede Nudel einzeln im Meeressugo gebadet hat. Los, Gilda, erklär ihm schon, wie du das machst.“

„Die Pasta mundet ganz hervorragend“, versicherte ich wahrheitsgemäß, aber nicht zuletzt, um Gilda nach Scaramuzzas Standpauke gewogen zu stimmen.

„Es ist ein sehr einfaches Rezept“, erwiderte Gilda, „und die Zutaten haben Sie ja ziemlich treffsicher erraten, war ja auch nicht schwer. Was es von anderen Pastarezepten unterscheidet, ist lediglich die Garung der Nudeln, die hier nicht gekocht, sondern im Sugo weichgerührt werden. Dabei gießt man, wie bei einem Risotto, immer wieder mit einem Schöpflöffel sprudelnd kochende Fischsuppe auf und lässt die Nudeln wie einen Risotto bei kleiner Hitze ganz langsam garziehen, bis sie weich sind und die gesamte Flüssigkeit aufgesogen haben. Dann kommt noch eine Prise Meersalz dazu und das Gericht ist fertig.“

„Zu Weihnachten hat Gilda dasselbe Rezept mit frischem Aal gemacht. Ein Gedicht“, lobte Il Tubo.

„Und zu meinem Geburtstag macht sie es mit einer Languste“, schwärmte Scaramuzza voll Vaterstolz. „Bei Gilda kannst du lernen, wie man kocht.“

„Ich werde mir Mühe geben, ein gelehriger Gast zu sein“, erwiderte ich artig, während ich mit dem größten Vergnügen meine Pasta aufaß.

„Wer war eigentlich dieser Lukobran?“, fragte ich so beiläufig wie möglich, nachdem ich meinen Teller mit einem Stück Weißbrot leergeputzt hatte. „Ich bin nämlich Augenzeuge seines tödlichen Unfalls geworden, oder zumindest fast. Der Engel hat den Mann fürchterlich zugerichtet.“

„Es war ja auch nicht irgendein Engel“, meldete sich Il Tubo zu Wort. „Der Erzengel Michael ist das Wahrzeichen unserer Stadt. Ein paar Jahrhunderte lang stand er auf dem Campanile der Kathedrale. Aber dann bekamen es die Stadtväter plötzlich mit der Angst zu tun, dass ihn der Maestral eines Tages zum Abheben ermuntern könnte. Die Sorge war nicht ganz unbegründet. Denn der Maestral ist, wie man bei uns in Balaor zu sagen pflegt, ein Wind, der einem Esel den Schwanz ausreißen kann. Also landete der Erzengel vor etwa dreißig Jahren auf seinem Sockel vor der Präfektur.“

„Das wird unseren Gast aus den Bergen herzlich wenig interessieren“, schnitt ihm Leuchtstanitzel das Wort ab. „Lukobran war, um Ihre Frage zu beantworten, Obmann unserer örtlichen Fischereigenossenschaft. Man könnte auch sagen, er war Fischereidirektor von Balaor. Das könnte man doch so sagen, nicht wahr, Boldo?“

Scaramuzza zögerte. „Zumindest hätte man es sagen können“, erwiderte er nach einer kurzen Nachdenkpause, „wenn ein paar Dinge anders gelaufen wären.“

„Anders als wie?“, fragte ich neugierig.

„Anders als sie es sind, lieber Freund.“

„Sie meinen, man hat ihn ermordet?“

„Nein, nein. Erzengel morden nicht.“ Scaramuzza schien mein Verdacht ausgesprochen zu amüsieren.

„Es sind aber nicht alle Menschen Engel“, erwiderte ich.

„Es sind aber auch nicht alle Menschen Mörder“, sagte Scaramuzza, „schon gar nicht hier auf unserer friedlichen Insel Balaor.“

Gilda hatte inzwischen meinen Teller abgeräumt.

„Wenn Sie Peperoncini mögen, wird Ihnen vielleicht auch das schmecken“, sagte sie und schenkte mir zum Abschluss noch aus einer Flasche, die einen halben Meter hoch war, eine ausgiebige Portion Grappa al Peperoncino ein.

Spätestens als das höllenscharfe Elixier wie ein Feuerball durch meine Speiseröhre schoss, wusste ich, dass ich mich hier in Balaor erstmals, seit ich Mexiko verlassen hatte, wieder so richtig zuhause fühlen würde.

© Haymon Verlag ©

Literaturangaben:
WAGNER, CHRISOPH: Gefüllte Siebenschläfer. Ein Carozzi-Krimi. Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2007. 312 S., 17,90 €.

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