BERLIN (BLK) — Elfriede Jelinek ist die Dramatikerin des Jahres 2009. Die österreichische Nobelpreisträgerin konnte die Voten von vier der fünf Juroren des mit 15 000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreises für ihr Schauspiel „Rechnitz (Der Würgeengel)“ gewinnen. Ein Auswahlgremium hatte aus 130 Stücken, die im vergangenen Jahr im deutschsprachigen Raum uraufgeführt wurden, sieben ausgewählt und nach Mülheim an der Ruhr eingeladen.
„Rechnitz“ heißt ein kleiner Ort in Österreich, unweit der ungarischen Grenze. Kurz vor Kriegsende soll dort Gräfin Batthyány ein Fest mit nationalsozialistischen Funktionären gefeiert haben. Ein Teil der Gäste bekamen Waffen, mit denen jüdisch-ungarische Zwangsarbeiter ermordet wurden. Das Verbrechen wurde verschwiegen, die Aufklärung behindert, die Schuldigen nie zur Rechenschaft gezogen.
Jelinek beschreibt nicht das Verbrechen selbst, sondern die Art des Verschweigens, des darüber Hinweggleitens und den heimlich-unheimlichen Genuss am Töten, an Omnipotenzphantasien. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sie dauert fort. Jossi Wielers Uraufführungsinszenierung an den Münchner Kammerspielen bewies, dass jene Unrecht haben, die Jelineks Textteppiche für unspielbar halten. Jelinek ist als Spezialistin für Stücke, die der Fortdauer faschistischen Denkens und Fühlens in der Gegenwart nachspüren, unübertroffen.
Roland Schimmelpfennig konnte in Mülheim mit „Hier und Jetzt“ ein Votum für sich verbuchen. Schimmelpfennig ist ein Spieler von hoher Virtuosität. Er beschreibt den Wunsch, den gegebenen Verhältnissen zu entkommen — es aber nicht zu können. Die Figuren sind im „Hier und Jetzt“ gefangen. Oliver Bukowski bekam viel Anerkennung für seine „Kritische Masse“, ein Stück über die Ratlosigkeit ins soziale Abseits gedrängter Menschen: So kann es nicht weitergehen — aber was tun?
Das Publikum erkannte seinen Preis René Pollesch für „Fantasma“ zu, eine Farce über die (Un)Möglichkeit, philosophische Überzeugungen und Privatleben miteinander zu vereinbaren.
Die Jury in Mülheim, die — unabhängig vom Auswahlgremium — den Dramatiker des Jahres wählt, diskutiert nicht hinter verschlossener Tür, sondern öffentlich. Sie besteht aus Theaterpraktikern und -theoretikern. Kritik wurde sachlich vorgetragen, das Bemühen, niemanden zu verletzen war wohltuend spürbar.
Gleichzeitig nahm sich die fünfköpfige Jury ausreichend Zeit für jedes Stück. Gerhard Jörder, der Moderator, kritisierte eine Jurydebatte im Fernsehen, in der die Zeit für die Findung des Preisträgers auf eine Stunde begrenzt wurde — in Mülheim standen die Stücke im Mittelpunkt. Die Kritik nahm sich die notwendige Zeit — erst um 01.05 Uhr Mittwochfrüh stand die Preisträgerin fest.
Jelinek erhält den Mülheimer Dramatikerpreises schon zum dritten Mal, dreizehn ihrer Stücke wurden zu den Mülheimer Dramatikertagen eingeladen — ein untrügliches Zeichen, dass die Stückeschreiberin den Nerv unserer Zeit trifft.
Ihre Romane und Theaterstücke provozieren mit drastischer, teils obszöner Sprache. Mit Themen wie Sexualität, Gewalt und Macht eckt die Schriftstellerin Elfriede Jelinek immer wieder an. „Skandal-Autorin“ und „erbarmungslose Moralistin“ wird die Österreicherin genannt. Bewunderer loben ihre „messerscharfen“ Analysen. 2004 erhielt die heute 62-Jährige den Literaturnobelpreis.
Das Publikum reagiert meist unterschiedlich. Ein Teil ist begeistert, der andere entsetzt. Nachdem die Schriftstellerin die österreichische NS-Vergangenheit und den ihrer Einschätzung nach verlogenen Umgang damit thematisiert hatte, wurde sie öffentlich attackiert.
Ihre Persönlichkeit ist schwer zu fassen. „Alle, die glauben, sie wüssten etwas über mich, wissen nichts“, sagte sie einmal. Die sprachgewaltige Autorin gilt als menschenscheu und psychisch labil. Der Nobelpreisverleihung in Stockholm blieb Jelinek bewusst fern. Sie eigne sich nicht dafür, „als Person an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Da fühle ich mich bedroht“, erklärte sie. (dpa/köh/mül)