ERLANGEN (BLK) – Der türkische Schriftsteller Murathan Mungan ist in seiner Heimat schon lange ein Star. Mehr als 50 Bücher vom ihm sind dort bereits erschienen. In Deutschland kommt mit „Tschador“ erst sein zweites Buch auf den Markt. Mungan, der 1955 in Mardin, im Osten der Türkei geboren wurde und sich offen dazu bekennt, schwul zu sein, erzählt darin die Geschichte von Akhbar. Der junge Mann kommt nach langer Zeit im Ausland in sein vom Bürgerkrieg zerrüttetes Heimatland zurück und versucht, seine Familie zu finden. Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa sprach Mungan am Rande des am Sonntag (31. August 2008) zu Ende gegangenen 28. Erlanger Poetenfestes über sein Buch, sein Heimatland die Türkei und das türkisch-deutsche Verhältnis.
In Ihrem Buch „Tschador“ wird weder eine Stadt genannt, noch ein Land. Man kann sich in etwa denken, wo die Geschichte spielt, aber es wird nie explizit genannt. Warum nicht?
Murathan Mungan: „Damit der Leser auch etwas zu tun hat. Den Namen der Hauptperson Akhbar gibt es so, wie ich ihn geschrieben habe, in keiner Sprache. Man hat schon das Gefühl, es handelt sich um einen Namen aus dem arabischen Raum, aber man kann eben nicht sagen, ob er Iraner, Afghane oder Iraker ist. Es ist nicht entscheidend, wo die Geschichte spielt. Darum habe ich den Namen so gewählt und darum habe ich auch keine Ortsnamen geschrieben. Es geht hier darum, eine bestimmte Problematik sichtbar zu machen und alle Ebenen dieser Problematik offenzulegen. Trotzdem hat der Ort, in dem ich geboren wurde, Mardin, eine große Rolle gespielt, als ich das Buch geschrieben habe. Das Licht in diesem Ort, der Schatten, die Akustik, die stammen aus Mardin. Für die Beschreibung der Polizisten in dem Buch habe ich das Rechtssystem Saudi-Arabiens studiert. Dann gibt es andere Elemente, die ich vom Iran oder aus Afghanistan übernommen habe. Das alles habe ich zusammengefügt.“
Das Gefühl der Fremdheit im eigenen Land ist das zentrale Thema in diesem Buch. Warum konnten Sie es so deutlich beschreiben?
Mungan: „Weil ich mich selber fremd fühle in dieser Welt. Ich bin auch nur ein Gast auf diesem Planeten.“
Das sind wir ja alle. Trotzdem hat nicht jeder dieses Gefühl. Es gibt ja durchaus Menschen, die sich irgendwo beheimatet fühlen...
Mungan: „Sehr richtig. Es gibt diese Menschen und die meisten von ihnen interessieren sich überhaupt nicht für Literatur. Viele Zivilisationen erleben gesellschaftliche Umwälzungen und werden immer weniger weltoffen. Wenn diese Phase eintritt, fühlen sich die Menschen, die eine richtige Beziehung zu ihrem Land haben, entfremdet. Akhbar ist kein politischer Flüchtling. Wäre er das, würde sich das Buch ganz anders lesen. Ich habe mich bewusst für einen ganz gewöhnlichen Menschen als Hauptfigur entschieden. Er kommt in sein Land zurück und stellt fest, dass er seine Heimat und damit auch seine Kindheit verloren hat. Das ist es, was die große Sehnsucht in ihm auslöst.“
Am Ende des Buches hat Akhbar die Suche nach seiner Familie aufgegeben und befindet sich an der Schwelle zum Wahnsinn. Warum dieses pessimistische Ende?
Mungan: „In der Atmosphäre, die in diesem Buch vorherrscht, gibt es keinen Ausweg. Das wollte ich sagen, indem ich das Buch so habe enden lassen. In einer Welt, die so verarmt ist, in einer Welt, die ihre Bilder verloren hat, gibt es keinen Ausweg. Ich bin nicht der Auffassung, dass dieses Buch pessimistisch ist. Aber es gibt eine Aussichtslosigkeit. Wir sprechen hier von dem Verlust einer ganzen Welt und das ist viel mehr als der Verlust einer Familie.“
Sie verstehen sich selbst als Sprachrohr für Minderheiten. Wie wichtig ist ein solches Sprachrohr in Ihrer Heimat?
Mungan: „Ich bin auf einem sehr harten, sehr patriarchalen Boden aufgewachsen. Dort gab es Menschen, die eine andere Sprache gesprochen haben, eine andere Religion hatten, eine andere Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit. In dieser Welt, in der wir leben, gibt es Menschen, die anders sind und das sind die, die am meisten gequält werden. Es reicht nicht, nur Sprachrohr für Minderheiten zu sein. Man muss dafür kämpfen, dass die Minderheiten sich selbst vertreten können. Das gilt für meine Heimat aber auch für Minderheiten auf der ganze Welt.“
In der Türkei werden Kinder nach Ihnen benannt, Ihre Werke werden sogar ins Kurdische übersetzt. Worauf führen Sie zurück, dass Sie eine solche Wirkung haben?
Mungan: „Ich bin eben ein Phänomen. Nein, im Ernst: Ich kann das auch nicht erklären. Ich bringe mich wirklich ein in meine Arbeit und selbst die Menschen, die meine Meinung und meine Art zu leben, nicht mögen, glauben mir, dass ich ehrlich bin. In einem Land wie der Türkei offen zu sagen, dass man schwul ist, bewirkt, dass Menschen sagen: "Wenn er sogar da die Wahrheit sagt, dann wird er auch sonst die Wahrheit sagen." Ich habe sehr früh angefangen, mich mit den Themen Feminismus oder den Rechten von Minderheiten wie Schwulen oder Kurden zu befassen. Das war in einer Zeit, in der die Türkei noch sehr reaktionär war und in der man noch nicht wirklich darüber sprach. Im Laufe der Zeit sind die Themen meines Schreibtisches aber immer mehr zu den Themen des ganzen Landes geworden. Ich bin jemand, der sich, genau wie die Türkei, immer zwischen dem Traditionellen und dem Modernen hin und her bewegt. All das könnten Gründe dafür sein, dass die Menschen meine Arbeit mögen.“
Die Türkei versteht den Auftritt als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse als Möglichkeit, sich als Land zu präsentieren, das auch in die Europäische Union passt. Was, glauben Sie, kann der Auftritt bewirken?
Mungan: „Ich glaube nicht, dass es politische Auswirkungen haben wird, dass die Türkei dieses Mal Gastland ist. Ich glaube, für die Politik ist so etwas eher Beiwerk. Aber der Auftritt ist eine Möglichkeit, die türkische Literatur und türkische Schriftsteller in Deutschland bekanntzumachen. Die türkische Kultur ist in Deutschland nicht hinreichend bekannt. Die Person, mit der sie gerade sprechen, hat in der Türkei 50 Bücher veröffentlicht, in Deutschland gerade das zweite. Diese Lücke kann nur eine Buchmesse natürlich nicht schließen, aber sie kann einen Anfang machen. Dadurch, dass die Türkei hier Gastland ist, ist eine wichtige Schwelle überschritten. Was beide Kulturen daraus machen, bleibt abzuwarten. Ich bin sehr gespannt, ob man dieses verspätete kulturelle Kennenlernen nutzen kann, um die große Lücke zu schließen.“
Wie erklären Sie sich, dass dieses Kennenlernen erst jetzt stattfindet, wo doch in Deutschland türkische Kultur eigentlich allgegenwärtig ist?
Mungan: „Sicher gibt es ein Gefühl von Brüderlichkeit was Deutschland angeht. Während der WM haben wir die deutsche Mannschaft unterstützt, beim Grand Prix bekommt Deutschland aus der Türkei regelmäßig die volle Punktzahl. Aber auf der anderen Seite haben auch die ganzen Türken, die in Deutschland leben, noch nie dafür sorgen können, dass das Buch eines türkischen Autors hier zum Bestseller wurde. Das heißt, türkische Kultur und Literatur sind für viele Türken in Deutschland etwas Fremdes. Wenn die Menschen Bücher von türkischen Autoren so kaufen, wie sie Lottoscheine kaufen, dann wären deutsche Verlage sicher auch auf türkische Autoren aufmerksam geworden. Aber das ist nicht passiert.“ (Interview: Britta Schultejans, dpa/vol)
Literaturangaben:
MUNGAN, MURATHAN: Tschador. Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Blumenbar Verag, München 2008. 126 S., 15,90 €.
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