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Nabokovs Vermächtnis

„Das Modell für Laura“ auf 138 Karteikarten

© Die Berliner Literaturkritik, 01.12.09

Von Lutz Happel

Schon einmal hätte Vladimir Nabokov beinahe ein Meisterwerk vernichtet. Er hatte das Manuskript für seinen Roman „Lolita“ schon „bis in den Schatten getragen, den der schiefe Müllverbrennungskorb auf den unschuldigen Rasen warf“. Wahrscheinlich ist es seiner Frau Vera zu verdanken, dass jener Text, der wenig später Nabokovs literarischen Weltruhm begründen sollte, nicht in Flammen aufging. Es war eine glückliche Entscheidung eines von Zweifeln geplagten Schriftstellers, auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, in der Zeit vor dem großen Ruhm. Postum ist nun Nabokovs Sohn Dmitri der wichtigste Akteur in einem ähnlich folgenschweren Veröffentlichungsdrama, diesmal allerdings vor gänzlich anderer Kulisse und mit einem Ausgang, über den sich vortrefflich streiten lässt.

Ende des Jahres 1975 begann Nabokov, 76-jährig und bereits gesundheitlich angeschlagen, stetig an der Niederschrift seines letzten Romans zu arbeiten. Glaubt man dem Autor, so komponierte er „Das Modell für Laura“ - wie jeden seiner 18 Romane - zunächst vollständig in Gedanken, um ihn dann auf Karteikarten zu fixieren. Diese letzte Niederschrift aus dem Gedächtnis wurde zu einem Wettlauf mit dem Tod, dem sich Nabokov am Ende geschlagen geben musste. Ihm fehlten einfach die Kräfte, seinen geistigen Entwurf auf Papier zu übertragen.

In den Delirien mehrerer Krankenhausaufenthalte las er sein fertig komponiertes Werk imaginär „einem kleinen Traumpublikum in einem ummauerten Garten vor. Unter meinen Zuhörern waren Pfauen, Tauben, meine schon lange toten Eltern, zwei Zypressen, einige junge Krankenschwestern, die auf dem Boden kauerten, und ein Hausarzt, der so alt war, dass er fast unsichtbar blieb“. Der Welt erhalten blieb ein Romanfragment aus 138 Karteikarten, nicht mehr als 34 potenzielle Buchseiten, die nach dem Willen Nabokovs vernichtet werden sollten.

Über 30 Jahre später, nach enervierendem Hin und Her um den letzten Willen eines genialen Schriftstellers, den Anspruch der literarischen Öffentlichkeit und ins Kraut schießenden Spekulationen über Form und Inhalt der immer noch in einem Schweizer Banksafe schlummernden Karteikarten, hat Dmitri Nabokov, das väterliche Edikt missachtend, das Fragment nun doch publiziert. Als Faksimile der Handschrift mit deutscher Übersetzung. Und dieses Fragment ist nicht viel mehr als ein Schatten des geplanten Romans. Eine Textbaustelle voller loser Bruchstücke, Alternativentwürfe, Notizen und Stichwörter, mit einer riesigen Lücke im den Plot offenbarenden Mittelteil.

Einem Perfektionisten wie Nabokov, dem nichts mehr verhasst war als das Unvollkommene, würde dieser spärlich editierte Einblick in das embryonale Stadium seiner letzten Romantextur höchstwahrscheinlich ähnlich albtraumhaft erscheinen wie einem Zauberkünstler die Vorstellung, sein Publikum blicke hinter die Kulissen, ohne damit seine Tricks zu durchschauen. Immerhin war Nabokov ein Schriftsteller mit nahezu grenzenlosem Perfektionstrieb. Er las bei Fernsehinterviews von Blättern ab, die er geschickt hinter Bücherstapeln verbarg. Egal ob Roman, Interview oder Brief, er drehte und wendete jedes Wort auf dem Papier mehrmals hin und her und er wies zeitlebens bei Bitten nach Werkstatteinsicht mit gepfefferter Entschiedenheit darauf hin, dass ein Fetus nicht „aus bloßer Neugier“ operiert werden sollte oder nur „ehrgeizige Nullen und frisch-fröhliches Mittelmaß“ die eigenen Rohentwürfe zur Schau stelle.

Nun ist es in der Welt, sein Vermächtnis namens „Laura“, ein rätselhafter Rohdiamant mit einem kantigen Plot, den nur Nabokov selbst hätte schleifen können. Flora, die schöne wie promiske Gattin des weltberühmten Neurologen Philip Wild ist das Modell für einen Schlüsselroman, „Meine Laura“, mit dem der Autor, ihr enttäuschter Liebhaber, in Anlehnung an das Ende in Oscar Wildes „Dorian Gray“, seine ehemals Angebetete zu vernichten sucht, indem er sie porträtiert. Derweil arbeitet der fettleibige lebensmüde Wild im Verborgenen an einem obskuren wissenschaftlichen Text, der seine ekstatischen Versuche nachzeichnet, sich kraft des eigenen Geistes auszulöschen.

Das Fragment dieser verwinkelten Konstellation zweier beziehungsreicher Bücher im eigentlichen Buch lässt nur erahnen, welch ein fantastisch vertracktes Romangewebe Nabokov vorschwebte. Doch dass er sich noch an der Schwelle des eigenen Ablebens selbst über den Tod künstlerisch erhebt, ist sein letzter großer literarischer Triumph. In den Passagen über die Selbstversuche Wilds mit dem Tod blitzt noch einmal Nabokovs hintergründige Genialität auf, die den Lesern seiner melodiereichen Text-Labyrinthe so lange Zeit wohlige Schauer bereiteten. Und Nabokov wäre nicht Nabokov, wenn er seinem Werk nicht auch ein Quäntchen tragisch-schelmenhafter Ironie beigemengt hätte, was schon der Untertitel des Romans widerspiegelt: „Sterben macht Spaß“.

Dennoch bleibt selbst für hartgesottene Nabokovianer „Das Modell für Laura“ ein einziges Rätsel. Wie erklärt sich das mysteriöse „Ich“, das wie ein unheimlicher Monolith aus dem Erzählstrom der dritten Person herausragt? Wie reagiert Flora auf die Lektüre ihres Porträts? Wie enden die Todesexperimente des desperaten Neurologen Wild? Die spärliche Edition steht dem ratlos gegenüber. Sie hat nur vage Spekulationen zu bieten.

Es bleibt dem Leser überlassen, die Bruchstücke dieses verwinkelten Spiegelkabinetts selbst zusammenzusetzen. Und das ist leider eine unlösbare Aufgabe. Der einzige Trost für den mündigen Leser bleibt die Vorstellungskraft. Auch diese Erkenntnis spricht aus diesem Fragment, ähnlich der letzten Zeilen von Nabokovs letztem großen Roman in russischer Sprache, „Die Gabe“: „Vom wachen Geist erzwingt mein Text, der so geendet hat, nicht, diesen Punkt als Schluß zu sehen: Des Daseins Truggestalten wehen blauschimmernd übers schwarze Blatt wie Morgenwolken ohne Eile, und niemals endet eine Zeile.“

Literaturangabe:

NABOKOV, VLADIMIR: Das Modell für Laura. Romanfragment auf 138 Karteikarten. Hrsg. von Dmitri Nabokov. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 318 S., 19,90 €.

Weblink:

Rowohlt Verlag


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