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Gabor Steingarts „Ende der Normalität“

Sein neues Buch - ein Nachruf mit Trauerrand

© Die Berliner Literaturkritik, 12.05.11

STEINGART, GABOR: Ende der Normalität. Piper Verlag,München  2011. 224 S., 16,95 €.

Von Martin Bialecki

Wir leben in ausgesprochen unordentlichen Zeiten. Alles ist möglich, jeder macht, was er mag, lässt es heute sein, probiert morgen das Gegenteil. Begrifflichkeiten verrutschen, Traditionen versinken, Werte, Halt, Hoffnung, alles durcheinander. Zeit für einen „Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war“, findet Gabor Steingart, Chefredakteur des Handelsblattes. Ein tiefer Trauerrand umflort das Cover seines neuen Buchs, „Das Ende der Normalität“. Vielleicht, um es gleich noch klarer zu machen: Hier ist etwas zu Ende. Kaum mehr etwas ist, wie es war. „Anything goes“: Das ist jetzt nicht so neu. Aber es ist spannend und gut erzählt.

Im Gespräch mit der dpa erzählt Steingart, was ihn zu diesem Buch bewog. „Es gibt viele Flüchtigkeiten, Hunderte von Prozessen der Selbstbeschleunigung und den Zerfall alles Traditionellen in Gesellschaft, Technik und auch dem Verhältnis der Staaten zueinander.“ Er sagt: “Wir erleben keine neue Normalität, sondern das Ende jeglicher Normalität. Kaum hat der moderne Mensch alle Antworten gelernt, ändern sich die Fragen. Es ist nur noch darauf Verlass, das auf nichts mehr Verlass ist. Wir haben Sicherheit gegen Freiheit getauscht.“

Die Prägekräfte der Familie, der Kirche, der Firma, des Lehrers - alles vorbei. „Die Magneten werden schwächer“, schreibt Steingart. Entscheidend sei, dass „die alten Ordnungskräfte des Lebens durch keine neuen ersetzt wurden.“ Der Einzelne ist frei - und empfindet das als so verstörend wie erregend. Steingart zitiert Richard Rortys „Prozess der Selbsterschaffung“. Meint: Ich liebe mein Leben, aber ich kann mir auch zwei andere vorstellen.

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Was aber hält eine solche Gesellschaft zusammen? Welche „Teilnormalitäten“ sind sinnstiftend, welche taugen nur für 150 Freaks? Steingart zieht den Vorhang weit auf, von der industriellen bis zu digitalen Revolution, holt Uschi Obermaier und Barack Obama auf die Bühne, Adenauer und Ackermann, Ferdinand Lasalle und Anthony Giddens, und jede Menge mehr. Das ist ziemlich viel Stoff für Werk von gut 170 Seiten. Manchmal webt Steingart seinen Text ein bisschen im Brand-Eins-Ton raunender Dringlichkeit. Dann wieder gelingen viele traurig-schöne Sentenzen, klug, überlegt, einprägsam.

Das Ende der Normalität sei nicht abrupt, vielmehr ein zäher Ablösungsprozess. Es sei der Weg vom Stammkunden zum Smart-Shopper, von der Welt der Gleichförmigkeit in die Ungleichzeitigkeit, vom Standardprodukt zu seiner Variation, von der Geburtsstadt zu „Meine Heimat bin ich“. Nüchtern und oft melancholisch schreibt Steingart, gelegentlich sehnsüchtig, immer faktengesättigt und langweilig nie.

Stark ist Steingarts Block der harten Themen. Wenn es um die Zukunft der Rente geht, die mit „demografischer Veränderung“ immer etwas sanft vernebelte, tektonische Verschiebung im Altersaufbau unserer Gesellschaft, um Altersarmut und Mehrklassenmedizin. Das macht beklommen, denn so oder so ähnlich wird eine Entwicklung aussehen, wenn man sie laufen lässt. Das liest sich weniger süffig, ist aber schon aus sich selbst heraus ungleich gravierender und folgenreicher („Bis zum Jahr 2050 geht Deutschland jedes Jahr eine 200 000-Einwohner-Stadt verloren.“).

Veränderungen, erzählt Steingart in Berlin, habe es zwar zu jeder Zeit gegeben. „Neu ist, dass der Einzelne sich für oder gegen so vieles entscheiden muss, das vorher andere - Eltern, Kirche, Fabrikant - für ihn entschieden haben.“ Ist das so? Dass es nicht mehr um ein „Entweder, oder“, sondern um ein permanentes Neben- und Ineinander von „Sowohl, als auch“ geht, das war vor gut 20 Jahren schon Gegenstand intensiver Betrachtung der Postmoderne, bei Zygmunt Bauman und anderen.

Sehnsüchte: „Wir trafen uns im Café und nicht bei Facebook“ - das Internet ist tatsächlich Motor der gewaltigsten Veränderung. „Es verbindet und isoliert Menschen, es belehrt und verblödet, es bringt Beschleunigung und frisst Besinnungszeit.“ Es verleiht dem Einzelnen große Macht, und es vereinzelt ihn im Zweifel unendlich. Steingart (Jahrgang 1962) entfährt ein sympathischer Seufzer: „Alles ist neu und modern, nur man selber leider nicht.“

Wo also ist der Ausweg, wie soll man leben? Steingart sieht sich, sagt er, als Optimist, oder wenigstens nicht als Pessimist. „Ich glaube, dass viele Deutsche die Ablösung von den bisherigen Normalitäten als Zumutung empfinden. Es wird umso weniger eine Zumutung sein, je mehr man versteht, was da um einen herum und in einem drin passiert. Es findet eine Transformation statt, auch in uns selbst.“ Der Einzelne muss entscheiden - und ist damit doch wieder zu etwas gezwungen. Die Gleichzeitigkeit der Wahrheiten und Lebensstile sei für die Gesellschaft möglich. Für den Einzelnen sei sie es nicht.

Gabor Steingarts Gesamtschau erzeugt einen starken, dunklen Sog. Am Ende seines insgesamt vielleicht etwas lang ausgebauten Essays überrascht er mit dem Optimismus eines hellen Konjunktiv-Happy-Ends: „Es wird keine leichte Zeit sein. Aber es könnte unsere glücklichste werden.“

Weblink: Piper Verlag


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