Von Friedemann Kohler
WEIDMOSS (BLK) – Anton Tschechow war nie in Weidmoos. Doch der Weg des russischen Schriftstellers (1860-1904) zum deutschen Leser führt seit Jahrzehnten immer wieder über den Weiler im hessischen Vogelsberg. In Weidmoos in einem 300 Jahre alten Bauernhaus lebt und arbeitet der Übersetzer Peter Urban. „Ich werde nicht ruhen, bevor nicht der ganze Tschechow zu lesen ist“, sagt der hagere 67-Jährige. Er steckt mitten in der Arbeit für ein gigantisches Vorhaben: eine vollständige deutsche Werkausgabe des russischen Arztes, Humoristen, Dramatikers und sensiblen Menschenkenners. Etwa 4500 Seiten maschinengeschriebenen Text, so schätzt er, muss er dafür in den kommenden Jahren schaffen.
In der Übersetzerwerkstatt im ersten Stock reichen Bücherregale bis unter die Balkendecke. Hier steht Urbans Handwerkszeug, darunter „der gute alte Dal“, das wichtigste russische Wörterbuch vor der Revolution in vier Bänden. Daneben alte Enzyklopädien aus Russland, Frankreich und Deutschland, die das Weltwissen der Zeit Tschechows am Übergang zum 20. Jahrhundert festhalten.
Urbans Fax als Verbindung zur Außenwelt hat fast schon historischen Wert, modernere Geräte gibt es nicht. Meist schreibt er mit der Hand vor. „Ich brauche Stille, um die Sätze zu hören.“ Nur das rhythmische Klappern der mechanischen Adler-Schreibmaschine, mit der er die Entwürfe abtippt, darf die Stille stören. Urbans Arbeitszeit ist die Nacht. Oft erlischt das Licht in der Werkstatt erst um zwei oder drei Uhr morgens. Fast ständig qualmen starke Zigaretten.
Sein besonderer Stolz ist die zehn Meter lange Bücherwand über dem umgebauten „Saustall“. Hier reihen sich die russischen Autoren aneinander, viele von ihnen hat er übersetzt: Alexander Puschkin, Nikolai Gogol, Iwan Turgenjew, Iwan Bunin, Isaak Babel, Daniil Charms, Wenedikt Jerofejew. Auch Russlands neuen Literaturstar Wladimir Sorokin hat Urban übertragen, doch großes Gefallen hat er an dem Postmodernisten nicht gefunden. In der alten russischen und sowjetischen Literatur seien die größeren Schätze zu heben, meint er.
Ein Lehrer im Internat am Ammersee brachte dem gebürtigen Berliner Urban erstmals russische Autoren nahe. Schon damals habe er sich in Tschechow verliebt, schwärmt er: „Ich halte ihn für den größten Menschendarsteller nach Shakespeare.“ Der Literaturgeschichte gelten Tschechows gebrochene Helden mit ihren Lebenslügen, Unfähigkeiten und Zweifeln als Durchbruch zur Moderne. Der Russe beeinflusste Autoren wie G.B. Shaw oder Somerset Maugham. Thomas Mann erkannte an, „das Kurze und Knappe“ in Tschechows Miniaturen könne „an künstlerischer Intensität das Große, das Riesenwerk (…) wohl gar übertreffen“.
Bei der Tschechow-Gesamtausgabe arbeitet Urban zunächst an den späten Meistererzählungen wie „Die Dame mit dem Hündchen“ und „In der Schlucht“, danach will er chronologisch – vom jüngsten bis zum ältesten Werk – übersetzen. Dem deutschen Publikum ist Tschechows erzählerisches Werk vor allem in Übersetzungen aus dem früheren DDR-Verlag Rütten und Loening bekannt. Urban will den Lesern aber einen neuen Einblick in Tschechows „Verse in Prosa“ bieten. Bei allem Respekt vor den Übersetzerkollegen, so sagt er, hätten sie die Struktur von Tschechows schlichtem, aber kunstvollem Satzbau vernachlässigt.
Schnell fischt Urban Belegstellen aus einer Mappe. „Die wissen nichts, verstehen nichts und interessieren sich für nichts“, hieß es bislang in der Erzählung „Drei Jahre“. Dabei fängt Tschechow selbst den Satz dreimal mit dem gewichtigen Wort „Nitschewo“ (nichts) an. „Nichts wissen sie, nichts begreifen sie, nichts interessiert sie“ – so wird Urban den Satz wiedergeben.
Im Russischen ist die Wortstellung freier und spielerischer als im Deutschen, doch Urban ist zuversichtlich, Tschechows Satzbau durchgehend übertragen zu können: „Noch hat mir niemand Verstöße gegen den deutschen Satzbau vorhalten können.“
Auch mit der Länge der Übersetzung, der Zahl der Wörter hat ein Übersetzer aus dem Russischen zu kämpfen. Die slawische Sprache kommt mit wenigen, präzisen Wörtern aus, die bei schlechten Übertragungen zu langen deutschen Sätzen führen. Wie bei Tschechow hat auch beim russischen Nationaldichter Puschkin die Rezeption in Deutschland unter überflüssigem Schwulst der Übersetzer gelitten. Von „einem Palais in klassizistischer Bauart“ war in der 1953er Übersetzung der Erzählung „Pique Dame“ die Rede. Bei Puschkin steht nur und so steht es auch bei Urban: „ein Haus älterer Bauart“.
Zum Übersetzen kam der Slawistikstudent bei einem Auslandsjahr 1964/65 in Belgrad. „Was, du willst hier studieren und nichts für die serbische Literatur tun?“ fragten ihn seine neuen Freunde. „Du wirst die ultimative Anthologie der serbischen Gegenwartslyrik schaffen!“ In Erfüllung dieses Auftrags machte Urban seine „unbeholfenen ersten Gehversuche in der Übersetzerei“.
Beruflich folgten Jahre als Lektor für slawische Literatur beim Suhrkamp Verlag, Hörspielredakteur beim Rundfunk und Geschäftsführer des Verlags der Autoren in Frankfurt. Seit 1989 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer, aus dem Wochenendhaus im Vogelsberg, dem „Hessisch-Sibirien“, wurde sein ständiges Domizil.
Als theoretisches Rüstzeug hat Urban sich Sentenzen seines Kollegen Walter Boehlich (1921-2006) zu Eigen gemacht, früher Cheflektor bei Suhrkamp. „Der Stil der Übersetzung muss der Stil des Originals und nicht der Stil des Übersetzers sein“, forderte Boehlich. Das verlangt Zurücknahme und Bescheidenheit in der Erkenntnis: „Jede Übersetzung kann im besten Fall nur Bruchstücke des semantischen Reichtums des Originals retten.“ In der dienenden Rolle des sprachlichen Vermittlers fühlt sich Urban wohl, eigene Ambitionen als Erzähler hat er nie gehegt: „Ich habe nie literarisch gesündigt.“
Trotzdem muss ein Übersetzer ein Sprachkönner sein. Noch entscheidender als die Beherrschung der Sprache, aus der man übersetzt, sei die Beherrschung der Sprache, in die man übersetzt, sagt Urban. Rezensenten loben sein schlankes, lakonisches, genaues Deutsch. „Erst heute können wir z.B. Puschkin und Tschechow auf Deutsch so lesen, wie sie geschrieben haben – genau und kurz“, lobte der Diogenes-Verlagsdirektor Winfried Stephan den Übersetzer.
Als erstes übertrug er Ende der 60er Jahre Dramen wie „Die Möwe“ und „Der Kirschgarten“ ins Deutsche. Mittlerweile kennt wohl kaum jemand Tschechow besser als Urban. Er übersetzte und edierte Tschechows Notizbücher und Briefe: „Ich finde seine Briefe so einmalig gut, so klug.“ Tschechow hatte eine Abneigung gegen Biografien, als Ersatz widmete Urban ihm eine taggenaue Lebenschronik und einen großen Bildband.
Die Arbeit ist typisch für den Philologen, der gern nach biografischen Details, literarischen und kulturellen Querverbindungen seiner Autoren gräbt. Daraus erwachsen die umfangreichen Anmerkungen, die einordnenden Nachworte, für die Urban als Herausgeber berühmt ist.
Kein Autor oder Übersetzer kommt ohne Verlag aus. Urban hat das Glück, dass der Diogenes Verlag in Zürich und dessen Chef Daniel Keel Tschechows Werk seit langem pflegen. Doch auch für einen solchen Verlag ist die Gesamtausgabe eines russischen Autors ein großes und riskantes Projekt. Zuletzt hat sich der Ammann Verlag mit der Neuübersetzung der großen Dostojewski-Romane durch Swetlana Geier auf ein ähnlich tollkühnes Unterfangen eingelassen.
Von den 4500 Seiten Text hatte Urban ein Drittel bereits fertig und hat es doch wieder verworfen, weil er nicht zufrieden war. Oft lasse er Übersetzungen ein Jahr liegen und überprüfe sie dann auf ihre Qualität. Er kenne die Stellen genau, „an denen ich gemogelt habe“.
Diogenes nennt keinen Zeitpunkt, wann das bis zu 15 Bände starke Tschechow-Paket auf den Markt kommen soll. Nur so viel steht nach Verlagsangaben fest: Es soll nicht in Teillieferungen, sondern als Ganzes erscheinen, um dann die gebührende Aufmerksamkeit zu erzielen. Aus Urbans Übersetzerwerkstatt wird noch auf Jahre nachts Licht auf den schlafenden Weiler im Vogelsberg fallen.