BERLIN (BLK) – Der 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel (14. Mai 2008) wirft seine Schatten voraus: Die „SZ“ ist von zwei Werken über dieses Land recht angetan. Cécile Wajsbrots „Aus der Nacht“ sei elegant geschrieben, aber etwas zu glatt, findet die „FAZ“. Die „NZZ“ lobt Walter Kempowskis Tagebuch „Somnia“ und Erzählungen von Deborah Eisenberg. Außerdem in der Presseschau: Claire Keegan, Alain Platel und der Abschlussband des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes über den Zweiten Weltkrieg.
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Cécile Wajsbrot wolle mit ihrem Roman „Aus der Nacht“ die stummen Zeugen der Schoa zum Sprechen bringen, schreibt die „FAZ“. Wie Wajsbrots frühere Romane beschäftige sich auch dieser mit der zweiten Generation von Schoa-Überlebenden. Erzählt werde die Geschichte einer jungen, namenlosen Frau, die nicht zur Sprache bringen kann, was den Eltern, Freunden und Verwandten zugestoßen ist. Die Heldin kämpfe gegen ein Vergessen, „das keinen Schutz mehr bietet, sondern das Leben erstickt“. Jedoch gehe die Selbstfindung zu restlos auf, findet der Rezensent Niklas Bender. Er schließt: Wajsbrot habe zwar ein elegantes Buch geschrieben, das stilistisch überzeuge, aber ihm sei es doch „eine Spur zu glatt“.
„Neue Zürcher Zeitung“
Santiago Roncagliolo, ein peruanischer Journalist und Autor, habe sich mit seinem Roman „Roter April“ das Thema „politische Gewalt“ vorgenommen und das Thriller-Genre mit religionsphilosophischer Interpretation zu verbinden versucht, findet die „NZZ“. Hauptfigur des Romans sei ein ziemlich durchschnittlicher Staatsanwalt, der aus der Hauptstadt Lima nach Ayacucho versetzt wird, wo in den fernen sechziger Jahren der Chef des „Leuchtenden Pfads“, Abimael Guzmán alias Presidente Gonzalo, zum bewaffneten Maoismus konvertierte. Ob mit dem „Leuchtenden Pfad“ in Zukunft verstärkt zu rechnen sei, diese Frage stellt Roncagliolo zwar, eine Antwort gebe sein Roman aber nicht. Roncagliolo ziehe die Fäden des Thrillers recht geschickt, er lege jede Menge falsche Fährten, um die Neugier des Lesers wach zu halten. Die Sprache erinnere häufig an „Hard-boiled-Krimis“. Dass „Roter April“ nicht wirklich als gelungen bezeichnet werden könne, liege jedoch nicht an der methodischen Verwendung von Genre-Elementen, sondern an der Figurengestaltung.
Im Oktober 2007 starb Walter Kempowski. Bis zuletzt habe er an seiner letzten Publikation, dem Tagebuch „Somnia“, gearbeitet, das von Januar bis Dezember 1991 reicht und unmittelbar an das 2006 erschienene „Hamit“ anschließt, informiert die „NZZ“. Der Tagebuchschreiber Kempowski zeige wenig Hemmung, sich mit diesem oder jenem anzulegen. Er fertige Politiker wie Engholm, Süssmuth oder Lafontaine ab, klage über schlecht besuchte Lesungen und schmähe Kollegen wie Max Frisch oder Böll. „Somnia“ sei ein Buch, das man schwerlich aus der Hand lege. Wer sich einmal auf diesen „so engen wie weiten Kempowski-Kosmos einlässt“, komme nicht umhin, dem damals 62-Jährigen „fast willenlos zu folgen“.
Deborah Eisenberg erkunde in ihrem Erzählband „Rache der Dinosaurier“ – im Original 2006 unter dem Titel „Twilight of the Superheroes“ erschienen – ein „Zeitalter ohne Gewissheiten“, schreibt die „NZZ“. Zwei der fünf Erzählungen stünden im Schlagschatten der Attentate vom 11. September 2001. Aber die Katastrophe und ihre Nachbeben scheinen in einer Art Vakuum stattzufinden, als wären „die Terroranschläge zu inkommensurabel mit der Existenz der Charaktere“, um diese wirklich zu berühren. In „Dämmerung der Superhelden“ lasse sich die laufende Historie nicht so einfach durch Knopfdruck zum Schweigen bringen oder im Zank ersäufen. Diese „expansive Collage“, die private und historische Erfahrungen ineinander bricht, sei der „gewichtigste und ambitionierteste Text im Band“, von dem die Rezensentin überzeugt zu sein scheint, ohne es explizit auszusprechen.
„Süddeutsche Zeitung“
Michael J. Sandel streite mit „Plädoyer gegen die Perfektion“ gegen die technologische und pharmazeutische Optimierung des Menschen, informiert die „SZ“. Sandel, Philosoph in Harvard, gehöre zur Fraktion derer, die eine der menschlichen Natur widersprechende Optimierung als anmaßend empfinden. Die Stärke seines Buches hänge mit seiner ethischen Grundüberzeugung zusammen, die man „Ethik des Augenmaßes“ nennen könne. Sandel schaue sich die Probleme an, nehme das Unbehagen ernst und versuche aus den einzelnen Fällen, das ethisch Bedenkliche freizulegen. Problematisch werden die Argumente Sandels, wenn er auf religiöse Rückbindungen des Menschen verweise. So gebe es gute Gründe, Krankheiten oder soziale Nachteile ändern zu wollen, die religiöse Einfärbung könne dabei aber nur der zweite Schritt sein, schreibt Rezensent Oliver Müller.
In einer Kurzkritik bespricht die „SZ“ den Erzählband „Durch die blauen Felder“ der 1968 in der irischen Grafschaft Wicklow geborenen Claire Keegan. Mit ihrer glasklaren Prosa demontiere sie die falschen Idyllen Irlands, in denen Armut und Lebensfreude keine Gegensätze sind. Jede der Geschichten ziehe auf ihre Art einen Schlussstrich, der ebenso „zornig wie kunstvoll ausgeführt“ sei, meint Ulrich Baron.
In der Reihe der „Nahaufnahmen“ des Alexander Verlags liege jetzt ein Bändchen vor, in dem der flämische Choreograph Alain Platel der in Berlin lebenden, weitgereisten Theaterkritikerin Renate Klett Rede und Antwort stehe, schreibt die „SZ“. Platel sei es gelungen, weltweite professionelle Anerkennung zu erlangen und zu einem Liebling des globalen Festivalbetriebes aufzusteigen, „obgleich er seine Arbeit mit Laien begann und stilistisch grundlegend auch von sämtlichen Konventionen und Moden des zeitgenössischen Theaters abwich“. Renate Klett, eine intime Kennerin von Platels Werk, frage stets genau nach. Seite für Seite meine man, dem Theatermann näherzukommen. Insgesamt sei es eine spannende wie dank ausführlichem Anhang informative Lektüre, meint die Rezensentin Eva-Elisabeth Fischer.
In einer weiteren Kurzkritik rezensiert die „SZ“ „Jesus in Talmud“ des in Princeton und Berlin lehrenden Judaisten Peter Schäfer. Die Studie analysiere die polemischen „Gegenerzählungen“ zum Begründer des Christentums und seiner Familie. Dazu trage er die wenigen direkten Hinweise im babylonischen und palästinensischen Talmud zusammen. Sex, Magie, Götzendienst, Blasphemie, Auferstehung und Eucharistie seien die „Leitmotive“ der Untersuchung. Schäfer argumentiere redlich und werte die neueste Forschung aus, ohne jedoch immer zu überzeugen. Dennoch sei das Buch „äußerst anregend“ und lenke den Blick auf spannende Zusammenhänge.
Eine kritische Hommage zum 60. Gründungstag Israels (14. Mai 2008) sei dem Historiker und Publizisten Tom Segev mit „Die ersten Israelis“ gelungen, schreibt die „SZ“. Segev habe nach Ablauf der 30-Jahre-Frist Zugang zu den israelischen Archiven gehabt und nicht schlecht gestaunt. Der Inhalt sei weniger ehrenwert und heldenhaft gewesen als das, woran er zu glauben gewohnt war. Segev sei bemüht, beiden Seiten – Juden wie Arabern – ein hohes Maß an historischer Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sein Schreibstil sei spannungsreich und „gegen den Strich gebürstet“ und stehe zugleich im Widerspruch zum gängigen Geschichtsbild. Der Zionismus sei für Segev eine Erfolgsgeschichte, allerdings mit einer hässlichen Kehrseite – die Tragödie der Palästinenser. Abschließend meint der Rezensent, dass heute noch „eine soziale und politische Zeitbombe“ in Israel ticke.
Auch Igal Avidan habe ein Buch zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel geschrieben, informiert die „SZ“. Er verfolge darin die Vision einer israelischen Nation, die „eines Tages Juden wie Araber gleichermaßen umfasst“. Avidan analysiere einige der strukturellen Probleme Israels. In Deutschland habe er sich einen Namen als Journalist gemacht. Zu den grundsätzlichen Konflikten zähle er neben dem Verhältnis zu den Palästinensern auch die Spannungen zwischen der säkularen Mehrheit und der orthodoxen Minderheit unter den jüdischen Israelis. Präzise und vorsichtig wäge Avidan seine Argumente ab, seine differenzierte, von Sympathie getragene Darstellung helfe, problematische Haltungen zu hinterfragen.
Für jene, die noch immer an eine im Grunde „saubere Wehrmacht“ glauben, seien die Schlussbände der Weltkriegsgeschichte eine „niederschmetternde Lektüre“, schreibt Joachim Käppner für die „SZ“. Mit den beiden Büchern, die den Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 schildern, sei das Mammutwerk nun komplett. Zehn Bände, Tausende Seiten, eine Armee von Fußnoten bewiesen eines: Die deutschen Militärhistoriker seien „auf der Höhe der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis“ angekommen. Das habe schließlich auch lange genug gedauert, denn lange habe das von Manfred Messerschmidt initiierte Projekt auf Eis gelegen. Einige Schwächen habe das Werk noch – so sei es in dem Stil geschrieben, den man in Deutschland für wissenschaftlich hält, was zu einer zähen Lektüre führe –, aber an sich sei es ein gelungenes Werk. Bei 1700 Seiten fragt der Rezensent allerdings einigermaßen verzweifelt: „Wer soll das alles bloß lesen?“. (wip/car)
Literaturangaben:
AVIDAN, IGAL: Israel. Ein Staat sucht sich selbst. Diederichs, München 2008. 216 S., 19,95 €.
EISENBERG, DEBORAH: Rache der Dinosaurier. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff und Nikolaus Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2008. 219 S., 17,90 €.
KEEGAN, CLAIRE: Durch die blauen Felder. Erzählungen. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2008. 192 S., 16 €.
KEMPOWSKI, WALTER: Somnia. Tagebuch 1991. Knaus Verlag, München 2008. 556 S., 24,95 €.
MILITÄRGESCHICHTLICHES FORSCHUNGSAMT (Hrsg.: Rolf-Dieter Müller): Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. 2 Bände. DVA, München 2008. 947 und 797 S., je 49,80 €.
PLATEL, ALAIN: Nahaufnahme Alain Platel. Gespräche mit Renate Klett. Alexander Verlag, Berlin 2007. 141 S., 12,90 €.
RONCAGLIOLO, SANTIAGO: Roter April. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 331 S., 19,80 €.
SANDEL, MICHAEL J.: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Berlin University Press, Berlin 2008. 175 S., 24,90 €.
SCHÄFER, PETER: Jesus im Talmud. Aus dem Englischen von Barbara Schäfer. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2007. 326 S., 29 €.
SEGEV, TOM: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates. Siedler Verlag, München 2008. 414 S., 24,95 €.
WAJSBROT, CÉCILE: Aus der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2008. 219 S., 19,80 €.
Presseschau vom 5. Mai 2008
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