STUTTGART (BLK) – Bereits in 2. Auflage ist der Erfahrungsbericht „Alte Bäume wachsen noch“ der Psychologin Marlis Pörtner im Dezember 2010 im Klett Cotta Verlag erschienen.
Klappentext: Muss man sich im Alter alles gefallen lassen?
Marlis Pörtner ist 76 und Psychologin. Eines Tages merkt sie: Ich bin alt. Zuerst sind es scheinbar belanglose Kleinigkeiten, dann wird es ihr immer stärker bewusst: Nun gehöre ich auch dazu. Was ändert sich für sie im Alter und wie geht sie damit um? Sie erzählt, dass sie manchmal unduldsam und dünnhäutig wird, andererseits neue Energien in sich spürt und neue Perspektiven entdeckt. Ein realistischer Blick auf die Schatten, aber auch die bereichernden Aspekte des Alters.
Marlis Pörtner geboren 1933 in Zürich, war Schauspielerin, jobbte als Sekretärin, arbeitete als Rundfunksprecherin, Übersetzerin von Belletristik, Theaterstücken und Jugendbüchern, studierte später Psychologie, war viele Jahre als Psychotherapeutin tätig und - dies auch heute noch - in der Fortbildung und Beratung sozialer Institutionen. Sie war verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und zwei Enkel.
Leseprobe:
©Klett Cotta©
Vorspann
Im Alter geht es nur noch bergab. Veränderungen bringen nichts Gutes, im Gegenteil, sie beschleunigen den Abbau. Für alte Menschen ist es das Beste, wenn alles so bleibt, wie es ist, und in den immer gleichen Bahnen verläuft. So die gängige Meinung.
Die Realität ist: Obwohl es uns mit zunehmendem Alter immer schwerer fällt, müssen wir uns gerade jetzt – ob wir wollen oder nicht – mit vielen Veränderungen auseinandersetzen, inneren wie äußeren. Vertraute Menschen sterben, die Welt rundherum verändert sich, im Großen ebenso wie in kleinen Dingen des Alltags. Der Laden, in dem wir seit Jahren eingekauft haben, musste seine Pforten schließen, das nette kleine Lokal, wo wir uns gerne mit Freunden trafen, ist einem Schnellimbiss gewichen, das Postamt in der Nähe wurde aufgehoben, die Zeitung, die wir jahrelang gelesen haben, erscheint nicht mehr … und so weiter und so fort.
Auch der Körper ist nicht mehr das, was er war. Im Spiegel blickt uns eine alte Frau, ein alter Mann entgegen, und wir fragen uns manchmal erschrocken: Bin das wirklich ich? Die Sehkraft nimmt ab, das Gehör wird schlechter, manches, was wir früher problemlos nebenher erledigt haben, schaffen wir nur noch mit Mühe. Selbst diejenigen, die das Glück haben, von schweren Krankheiten verschont zu sein, müssen sich mit allerlei altersbedingten gesundheitlichen Problemen herumschlagen. Das alles ist unangenehm, zeitraubend und mühsam, man könnte sich unentwegt darüber ärgern oder grämen und dem, was früher war, nachtrauern.
Man kann es auch anders sehen: Veränderungen fordern uns heraus, beleben uns, rufen schlummernde Kräfte wach und erweitern den Horizont. Veränderungen, selbst unliebsame, bringen uns weiter – wenn wir bereit sind, uns mit wachen Sinnen auf sie einzulassen.
Für alles, was er im Alter verliere, gewinne er etwas hinzu, erklärte kürzlich der siebzigjährige Regisseur Peter Stein in einem Radio-Interview. Noch sind solche Stimmen selten, aber es werden ihrer mehr. Sie zeigen, dass die – nicht zu bestreitenden – Beschwerden und Beeinträchtigungen des Alters nur die eine Seite der Medaille sind. Wenn wir unseren Blickwinkel ändern, werden wir auch ihre andere Seite entdecken und die späten Jahre als Chance begreifen können. Den Blickwinkel ändern heißt nicht: wegschauen, sondern im Gegenteil: genauer hinschauen, das Auge weiter schweifen lassen, um verschiedene Seiten altersbedingter Veränderungen wahrzunehmen, die schmerzlichen und die hoffnungsvollen. Dann erkennen wir, dass dieser Lebensabschnitt nicht nur Verlust mit sich bringt, sondern auch überraschende Entwicklungsmöglichkeiten bereithält. Den Blickwinkel ändern heißt nicht, die Beschwernisse und Unannehmlichkeiten des Alters und die damit verbundenen Gefühle verdrängen, sondern ihnen ins Auge sehen, sie annehmen und versuchen, so gut wie möglich mit ihnen zu leben.
Drei Eigenschaften – oder sollte ich besser sagen Tugenden? – erweisen sich als besonders hilfreich, ja unverzichtbar, um sich die Lebensfreude zu erhalten und die späten Jahre – trotz und mit ihren Einschränkungen – als eine zufriedene und erfüllte Zeit zu erleben: Achtsamkeit, Flexibilität und Versöhnlichkeit.
Achtsamkeit ist eine buddhistische Tugend, die wir schon in jüngeren Jahren gut gebrauchen könnten. Im Alter wird sie geradezu unentbehrlich, um trotz mancherlei Beschwerden den Alltag gut bewältigen zu können. Höchste Zeit also, sie sich anzueignen: Achtsamkeit nach innen, auf unsere momentane Befindlichkeit, auf Schwachstellen, die sich heute besonders bemerkbar machen und beachtet werden müssen, auf Bedürfnisse, denen wir Raum geben sollten. Achtsamkeit nach außen, auf das, was auf dem Weg liegt: Da ist eine Stufe kaum zu sehen, dort lauert eine Unebenheit – lauter Stolpersteine, die man in jüngeren Jahren gar nicht bemerkt, weil sie noch keine Bedeutung haben.
Man wird dünnhäutiger im Alter – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Haut wird tatsächlich dünner. Barfuß gehen, zum Beispiel, kann zur Qual, werden, weil die geringfügigsten Unebenheiten, die winzigsten Steinchen schmerzhaft zu spüren sind. Man braucht nur irgendwo leicht anzustoßen – schon reißt die Haut auf oder es bilden sich blaue Flecken. Im übertragenen Sinn: Man wird hellhöriger für Unausgesprochenes, bekommt ein feineres Gespür für unterschwellige Spannungen, nimmt subtile Unfreundlichkeiten deutlicher wahr, reagiert empfindlicher auf Rücksichtslosigkeiten. Auf der anderen Seite kann eine kleine (oft im Grunde ganz selbstverständliche) freundliche Geste oder Aufmerksamkeit zutiefst beglücken, ja schnell einmal zu Tränen rühren.
Diese erhöhte Sensibilität haben wir im Alter dringend nötig, weil sie uns hilft, so manche Klippe zu umgehen. Wir sollten uns ihrer nicht schämen, sondern sie ernst nehmen und uns von ihr leiten lassen.
Unterstützen Sie dieses Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei! Vielen Dank!
Flexibilität brauchen wir, um auf das, was wir achtsam wahrnehmen, angemessen zu reagieren: also nicht um jeden Preis das vorgesehene Programm durchziehen, sondern die momentane Befindlichkeit berücksichtigen und Aktivitäten entsprechend anpassen. Zum Beispiel die morgendlichen Übungen weglassen, wenn ich merke: heute bin ich nicht so recht in Schuss; essen, wenn ich Hunger habe; schlafen, wenn ich müde bin – obwohl es im Tagesablauf vielleicht anders vorgesehen war. Auf den Rhythmus des eigenen Körpers zu achten und ihm zu folgen ist eine unschätzbare Kraftquelle, die wir nutzen sollten, wann immer es möglich ist. Natürlich geht das nicht immer, aber es geht öfter, als wir meinen. Sicher werden wir oft durch reale Gegebenheiten daran gehindert, doch mindestens ebenso oft sind es die Vorstellungen in unseren Köpfen, die uns im Wege stehen. Jüngere Menschen können ihre Befindlichkeit eher einmal außer Acht lassen, weil sie mehr Reserven haben und sich schneller regenerieren. Doch auch in früheren Jahren ist das nur bis zu einem gewissen Grad möglich, will man nicht Raubbau mit seiner Gesundheit treiben. Den können wir uns im Alter definitiv nicht mehr leisten. Wir müssen sorgsam mit unseren Kräften umgehen und sie sinnvoll einsetzen, damit sie uns möglichst lange erhalten bleiben, das heißt, wir müssen auf wechselnde Situationen flexibel reagieren können. Das Dilemma ist: Wir brauchen Flexibilität jetzt notwendiger denn je und zugleich fällt sie uns mit zunehmendem Alter immer schwerer. Wir sind körperlich nicht mehr so beweglich und neigen dazu, auch in der geistigen Beweglichkeit nachzulassen. Wir halten am Gewohnten fest, selbst wenn es unserer Befindlichkeit nicht angemessen ist. Dagegen müssen wir etwas tun.
Nicht dass Gewohnheiten grundsätzlich schlecht wären. Wir brauchen Gewohnheiten, sie erleichtern manches und geben uns Sicherheit – aber sie müssen einen Sinn haben und unseren Bedürfnissen entsprechen. Und die ändern sich im Lauf des Lebens. Deshalb müssen wir immer wieder mal das eine oder andere bisher Gewohnte aufgeben und etwas anderes an seine Stelle setzen. Dieses andere zu finden ist nicht immer leicht, doch zugleich eine spannende und beglückende Erfahrung.
Flexibilität schafft ein Gegengewicht zur abnehmenden Beweglichkeit unserer Glieder (gegen die sich übrigens ebenfalls einiges tun ließe). Ob es uns gefällt oder nicht: Die vielfältigen inneren und äußeren Veränderungen, denen wir in diesem Lebensabschnitt ausgesetzt sind, rufen nach immer neuen Anpassungsleistungen. Einfallsreichtum ist gefragt, um Lösungen zu finden, mit denen wir uns wohl fühlen.
Flexibel sein bedeutet nicht, sich verbiegen zu müssen, im Gegenteil. Wohlbefinden und Zufriedenheit sind nur möglich, wenn man zu sich steht. Und wo das nicht mehr in derselben Weise möglich ist wie bisher, müssen neue Wege gefunden werden, um sie sich zu verschaffen. Flexibilität ist die Fähigkeit, sich zu verändern und sich dabei selber treu zu bleiben.
Versöhnlichkeit ist vielleicht das wichtigste von allem: Versöhnlichkeit gegenüber anderen, gegenüber dem Leben – und gegenüber sich selber. Nichts vergällt die späten Jahre mehr als verbittertes Hadern. Es schadet der Seele, in Unversöhnlichkeit zu verharren gegenüber Menschen, die uns enttäuscht oder – vielleicht nicht einmal absichtlich – verletzt haben; zu hadern mit dem Schicksal, das es nicht immer gut gemeint hat; nicht hinwegzukommen über die eigenen Unzulänglichkeiten, Fehler und das eigene Versagen. Gewiss, Versöhnlichkeit wäre schon früher wünschenswert, doch wenn der Schmerz noch zu frisch ist, die Wut noch zu heftig, die Enttäuschung noch zu bitter, kann Versöhnlichkeit nur schwer gelingen. Es braucht Zeit, bis Schmerz, Zorn und Enttäuschung durchlebt sind und abklingen. Erst dann wird es möglich sich auszusöhnen. Das ist eine der großen Chancen, die uns die späten Lebensjahre bieten. Versöhnlichkeit bedeutet nicht, Personen oder Ereignisse im Nachhinein zu beschönigen oder gar zu verklären. Eine wirkliche Aussöhnung mit dem Geschehenen, kann nur gelingen, wenn wir dem, was war, ins Auge sehen, so wie es war. Verklärung erschwert die Aussöhnung. Versöhnlichkeit heißt, das Geschehene annehmen und sich sagen können: So war es nun einmal, es war zwar nicht schön, aber jetzt kann ich es gut sein lassen.
Versöhnlichkeit bedeutet auch erkennen, dass man selber nicht immer alles richtig gemacht hat, die damit verbundenen Gefühle wie Enttäuschung, Trauer, Scham, Bedauern zulassen und sich schließlich verzeihen können. Dann fällt es nicht mehr so schwer, auch anderen zu verzeihen. Und: Schicksalsschläge werden nicht erträglicher, wenn man nicht aufhört, sich darüber zu grämen. Doch wenn etwas bedroht ist, das uns jetzt wirklich noch am Herzen liegt, müssen wir notfalls bereit sein, dafür zu kämpfen. Es nicht zu tun, hieße sich aufgeben und selber zum alten Eisen werfen.
Eine radikale Veränderung meiner Lebensumstände, die mir zunächst alles andere als erwünscht war, hat mir die Augen geöffnet für unverhoffte Entwicklungsmöglichkeiten, welche die späten Lebensjahre bereithalten. Meine Alltagsgewohnheiten umkrempeln zu müssen entpuppte sich als spannendes Abenteuer, das ungeahnte Energien freigesetzt, mir entscheidende Einsichten ermöglicht und neue Perspektiven aufgezeigt hat.
Die Schilderung der Höhen und Tiefen dieses Erfahrungsprozesses und der Gedanken, die er ausgelöst hat, soll die „Schrecken des Alters“ etwas relativieren, diesbezügliche Ängste mildern und andere ermutigen, über die negativen Aspekte des Altseins hinauszublicken und möglichst frühzeitig Ausschau zu halten nach den Chancen ihrer späten Lebensjahre, damit sie ihnen zuversichtlicher entgegensehen können.
©Klett Cotta©
Literaturangabe:
PÖRTNER, MARLIS: Alte Bäume wachsen noch. Neue Erfahrungen in späten Lebensjahren. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2010, 170 S., 18,95 €.
Weblink: