Im Winter 2006 wurde die Schriftstellerin Barbara Honigmann vom Deutschen Literaturfond als Writer in Residence an die „New York University“ eingeladen. Zehn Wochen allein in einem Hochhaus-Appartement der Universität, ohne alle Verpflichtungen, außer der, da zu sein. Sie war schon früher in New York gewesen, aber nie für so lange Zeit: vom November bis ins neue Jahr. Sie hat aufgeschrieben, was sie gesehen hat und wem sie begegnet ist – vor allem im „magischen Dreieck“ zwischen den beiden „Villages“ und dem Washington Square, im Süden von Manhattan, wo NYU residiert. Sie ist berauscht vom „überirdischen Licht“, das die Stadt im Vorwinter umgibt, sie streunt durch die Straßen ihres Viertels, in dem viele Juden leben, sie besucht Jazz-Kneipen und Synagogen, als „Orthodoxe light“, als die sie sich selbst bezeichnet
Sie steht klar in der Tradition der nie unterbrochenen Talmud-Auslegung, über deren Einfluss auf ihr Leben sie an anderer Stelle („Das Gesicht wiederfinden“, München 2007) ausführlich berichtet hat. Sie achtet die vielen Vorschriften der Heiligen Bücher ohne Verbissenheit: „Wenn ich einmal etwas vom halachischen Regelwerk gelernt oder auch nur aufgeschnappt habe, kann ich es beim besten Willen nicht mehr vergessen. Deswegen meide ich halachische Belehrungen, wo ich kann“. Sie ist begeistert von der Vielfalt des jüdischen Lebens in der Stadt, wo man an jedem Schabbes in eine andere „Schul“ gehen und in jeder Neues erleben kann. Sie, die es „hasst, ewig DDR-Bürger bleiben zu müssen“, trifft nach vierzig Jahren ihre Freundin Sanda wieder, mit der sie ständig zusammengehockt hat, als sie noch Dramaturgin in Ostberlin war. Aus der siebenundfünfzigjährigen Mutter zweier erwachsener Kinder wird wieder – wie sie selbst es empfindet – eine „Studentin“, die neugierig um sich blickt: „Ich spüre die Versuchung, mich jetzt entweder ganz fallen zu lassen oder viel mehr auf Distanz zu gehen. Beides aber ist nicht meine Art, ich möchte gern versuchen, das gefährdete Gleichgewicht zu halten und ein Beobachter zu bleiben, der trotz allem etwas sieht.“
Genau dies gelingt ihr wunderbar. Mit der ihr eigenen Naivität beschreibt sie, was ihr vor Augen kommt, plastisch, genau, aus einer liebenden Distanz, die vor allem, (aber nicht nur), die „eigenen Leute“ in den Blick nimmt. Honigmann hat Humor und zuweilen ist sie auch zu milder Ironie fähig: ihre Beschreibung des Chanukka-Festes, das 2006 mit dem christlichen Weihnachten zusammenfiel, ist ein Kabinettstück angewandter Ethnologie der New Yorker Moderne. In der orthodoxen Schul der „Leute von Brzenan“ – einem vergammelten Gebäude an der Lower East Side (wo einst die armen osteuropäischen Juden in „sweat jobs“ schufteten, eine Gegend, die neuerdings als „hip“ gilt) – hat ein Künstler „ein Porträt des verehrten Präsidenten gestaltet, und zwar als Halbrelief aus gehackter Leber. Es sieht ihm frappierend ähnlich. Ein Werk in der Art des Arcimboldi, nur dass außer der gehackten Leber auch die Oliven, sauren Gurken und Mohrrüben für Augen, Nase, Mund und Schnurrbart echt sind. Alle finden, dass die Wahl der Materialien sehr passend ist, weil Benny sein Leben lang Fleischer war.“ Benny, so heißt der Gemeindepräsident. Wenige Minuten nach der Enthüllung des Denkmals freilich wird es von den „Leuten von Brzenan“ verspeist. Derlei sehr komische Szenen gibt es viele, denn Honigmann hat einen sicheren Blick für alles, was seltsam ist.
Es gibt auch andere Passagen: Erinnerungen an ihren Vater und die früh verstorbenen Freunde aus der DDR, die Begegnung mit einer über neunzigjährigen Überlebenden in Washington Heights, dort wird sie mit dem konfrontiert, worüber sie nicht reden möchte: der Shoa. Sie besucht das Bard College, wo Hannah Arendt und ihr Mann Heinrich (nicht „Hans“, wie sie irrtümlich schreibt) Blücher begraben liegen, aber sie beschreibt eigentlich nur den Ort. Dass man die beiden Toten kennt, das setzt sie voraus.
Was Honigmann nicht voraussetzt, vielmehr ihren deutschen Lesern mit graziöser Insistenz immer wieder erklärt, das ist das jüdische Leben unter dem Gesetz, das zwar in New York mehr Facetten hat als anderswo, aber eben dies bleibt: jüdisches Leben. Wenn es sich dort auch freier entfalten kann als anderswo, so steht es dennoch unter dem Gesetz des Vorläufigen, welches seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem über Juden verhängt ist: Diaspora zu sein selbst dort, wo sie sich zeitweise sicher fühlen können. Honigmann weiß das wohl. Auch darum hat sie das „magische Dreieck“ kaum je verlassen in den zehn Wochen, denn hier wollte sie genau hinsehen, hier wollte sie zugehörig sein, riechen, schmecken, hören, wie sich das Leben unter ihresgleichen anfühlt.
Einen Moment lang überlegt sie, dort „ein neues Leben zu beginnen“, ruft sich jedoch selbst zur Ordnung, dies sei nur ihr „Hang zum Dramatischen“. Am Ende ihres Aufenthalts zerreißt sie all die vielen Papiere, die sie vor allem aus den Lokalseiten der New York Times ausgeschnitten hat und behält nur ihr Notizbuch, in dem steht, was dann zu Hause zu dem Buch „Das überirdische Licht“ wird. Honigmanns Buch ist keine Reportage, schon gar keine politische. Es ist der Augenzeugenbericht einer empfindsamen und auch rigorosen Beobachterin, die ihre zehn Wochen gut genutzt hat. Ganz zur Belehrung und zum Entzücken ihrer Leser.
Literaturangaben:
HONIGMANN, BARBARA: Das überirdische Licht. Rückkehr nach New York. Carl Hanser Verlag, München 2008. 160 S., 14,90 €.
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