Werbung

Werbung

Werbung

New York, Stadt der Hoffnung und Trostlosigkeit

Adrian Nicole LeBlancs Roman „Zufallsfamilie“ berichtet von der Bronx in New York

© Die Berliner Literaturkritik, 26.06.08

 

WIEN (BLK) – Im Deuticke Verlag wird im Juli dieses Jahres Adrian Nicole LeBlancs Roman „Zufallsfamilie“ erscheinen.

Klappentext: Jessica, ein wildes Mädchen, zieht Probleme magisch an. Ihr Freund, Drogendealer Boy George, sitzt lebenslänglich im Gefängnis, wo bald auch Jessica landet, weil sie zu viel weiß und zu wenig sagen will. Ihr Bruder Cesar sitzt wegen eines Gewaltverbrechens, seine Freundin Coco, selbst noch fast ein Kind, lebt mit ihren Töchtern schlecht und recht von der Sozialhilfe. Doch zu Weihnachten leiht sie sich Geld zu Wucherzinsen, um Geschenke für ihre Familie zu kaufen …

Adrian Nicole LeBlanc hat zehn Jahre lang das Leben von Jugendlichen in der Bronx in New York begleitet und ihr Vertrauen gewonnen. Sie erzählt von Mord, Vergewaltigung und ungewollter Schwangerschaft, vom trostlosen ewigen Kampf um Geld und Leben, aber auch von Hoffnung, Sehnsucht, Liebe und Freundschaft. „Zufallsfamilie“ wurde in Amerika zum Sensationserfolg. Niemand, der dieses Buch gelesen hat, wird es jemals wieder vergessen. (lea/wip)

 

Leseprobe:

© Deuticke ©

I. DIE STRASSE

Jessica wohnte in der Tremont Avenue, in einem der ärmeren Blocks in einem ohnehin schon armen Viertel der Bronx. Selbst wenn sie nur zum Einkaufen rausging, zog sie sich um. Zufall war im Ghetto eine Chance. Besser, er traf einen nicht unvorbereitet. Sie hatte zwar nicht viel zum Anziehen, aber sie war sehr erfinderisch mit dem, was ihr zurVerfügung stand – die Lee-Jeans ihrer Schwester, die Ohrringe ihrer besten Freundin, T-Shirt und Parfum von ihrer Mutter.

Wenn sie in den Straßen in ihrer Nachbarschaft auftauchte, sorgte das gewöhnlich für Aufsehen: ein sechzehnjähriges puertoricanisches Mädchen mit haselnussbraunen Augen, einem breiten, einladenden Lächeln und einem verlockend gut gebauten Körper, dessen Sinnlichkeit wie eine Einladung wirkte: Selbst wenn man sich mit ihr mitten auf der Tremont unterhielt, kam man sich so vor, als würde man mit ihr Liebesgeflüster unter der Bettdecke austauschen.

Typen, die gerade mit ihren Autos vorbeikamen, boten ihr an sie mitzunehmen. Erwachsene Männer benahmen sich verrückt. Frauen warfen ihr missbilligende Blicke zu. Jungs machten Versprechungen, die sie nicht halten konnten. Jessica zog Jungs an, dafür hatte sie Talent, aber sie war weniger gut darin, sie zu behalten. Wenn sie sich verliebte, dann heftig und schnell. Dabei wollte sie nichts mehr als einen richtigen Freund, bloß endete es immer damit, dass sie die andere war, die Geliebte, die hinten anstehen musste, das Mädchen, zu dem sich keiner offen bekannte. Jungs riefen erst dann zu ihrem Fenster hoch, wenn sie ihre anderen Mädchen, die sie als ihre Frauen ansahen, heimgebracht hatten.

Jessica kam trotzdem zu ihrem Spaß, auch wenn das bedeutete, dass sie jedesmal, wenn sie Spaß hatte, jemand anderem Schwierigkeiten machte, und für ein wildes Mädchen in einem gefährlichen Alter hieß das meist: große Schwierigkeiten. Es waren die Mittachtziger, und der Drogenhandel an der East Tremont blühte. Die Straße, die von Osten nach Westen verläuft, markiert das nördliche Ende der South Bronx. Jessica wohnte etwas abseits des Grand Concourse, der die Bronx der Länge nach durchschneidet.

Von der Mietwohnung ihrer Mutter schaute man direkt auf eine Unterführung. Von unten hörte man das dumpfe Wummern der Bässe aus den Stereoanlagen derAutos und aus den Fenstern ringsum dröhnten die spanischsprachigen Radiosender. An den Ecken standen junge Männer mit goldenen Armbändern und Ketten. Kinder, die sich über ihr Take-Away hermachten, das die Dealer ihnen gekauft hatten, die Styroporschachteln mit dem fettigen Essen auf ihren Knien balancierend.

Großmütter schoben Kinderwägen. Junge Mütter, auf ihre Kinderwägen gestützt, die sie abgestellt hatten, um sich aufs Flirten konzentrieren zu können. Ihre natürlich unwiderstehlich süßen Babys, die einen wunderbaren Einstieg in ein Gespräch boten. Überall auf der Straße sah man arbeitende Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, einkauften, Tüten mit Lebensmitteln heimschleppten, oder Rollkarren vor sich herschoben, auf denen penibel gefaltete, frische Wäsche gestapelt lag. Drogenkäufer, die durch die Menge schlichen, kurz etwas mitgehen ließen und gleich wieder abtauchten. Diese Straßen, die mehr oder weniger die Klammer für die Welt bildeten, in der sich Jessicas Leben abspielte – Tremont und Anthony, Anthony und Echo, Mount Hope und Anthony, Mount Hope und Monroe –, waren einer der heißesten Drogenumschlagplätze im berüchtigten Polizeidistrikt.

Derselbe Abschnitt der Tremont hatte für Jessicas Familie Gutes bewirkt. Lourdes, Jessicas Mutter, war gemeinsam mit ihrem gewalttätigen Freund von Manhattan hierhergezogen, in der Hoffnung, die Bronx würde ihrer zerrütteten Beziehung zu einem Neuanfang verhelfen. Die Beziehung war bald zu Ende, aber die neue Umgebung war noch immer eine Chance. Als Jessica für ihre Mutter eines Nachmittags zu Ultra Fine Meats einkaufen ging, fragte sie der Metzger, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Jessica war damals vierzehn; er war fünfundzwanzig. Jessica antwortete, sie sei zu jung für ihn, aber sie habe eine Mutter, die sei zweiunddreißig, hübsch und noch zu haben.

Nach sieben vergeblichen Anläufen schaffte er es schließlich, dass Lourdes mit ihm ausging. Zwei Monate später zog er bei ihnen ein. Die Kinder nannten ihn Big Daddy. Es dauerte nicht lange, bis so etwas wie Ordnung in den Haushalt kam: Lourdes richtete Big Daddys Frühstück her und schickte ihn zur Arbeit; alle – Robert, Jessica, Elaine und Cesar – gingen zur Schule. Lourdes putzte die Wohnung und hatte schon zu Mittag das Abendessen fertig auf dem Herd. Big Daddy schien Lourdes tatsächlich zu lieben. An den Wochenenden ging er mit ihr zum Bowling oder zum Tanzen oder nach City Island und führte sie zum Essen aus.

Und er akzeptierte ihre vier Kinder. Er kaufte ihnen Kleider, lud sie zum Softball ein und fuhr mit ihnen upstate zum Picknick am Bear Mountain. Er benahm sich so, als seien sie eine Familie.

Jessica und ihr älterer Bruder Robert hatten denselben Vater: Er starb, als Jessica drei war, hatte sie aber nie als seine Tochter akzeptiert; nur Robert hielt noch engen Kontakt zur Familie seines Vaters. Elaine, Jessicas jüngere Schwester, hatte einen anderen Vater, den sie gelegentlich am Wochenende besuchte. DerVatervon Cesarwiederum hatte ihn zwar als seinen Sohn anerkannt – auf Cesars Geburtsurkunde war als sein Nachname dessen Name eingetragen –, aber er war ein Drogenhändler, der noch andere Frauen hatte, mit denen er auch Kinder hatte.

Hin und wieder schaute er bei Lourdes vorbei, und manchmal besuchte Cesar ihn, was im Grunde hieß, dass er ihm auf der Straße Gesellschaft leistete. Cesars Vater ließ ihn für sich arbeiten: „Hier“, sagte er und drückte Cesar ein paar mit Klebeband zusammengeklebte Phiolen mit Crack in die Hand, „halt das mal.“ Kinder konnten zwar nicht wegen Drogendelikten belangt werden, dennoch warnte Big Daddy Cesar,wenn er von seinem Vater nach Hause kehrte. „Nimm ihn dir bloß nicht als Vorbild. Wenn du dir schon unbedingt jemanden als Vorbild aussuchen musst, dann sollte das besser ich sein.“

Wenn Cesar Probleme in der Schule hatte, sprach Big Daddy mit seinen Lehrern. Jessica sah Big Daddy als ihren Stiefvater an, eine Ehre, die sie noch keinem der Männer ihrer Mutter hatte zuteil werden lassen. Aber nicht einmal ihre und Cesars Zuneigung für Big Daddy konnte die beiden im Haus halten.

*

In Jessicas Augen war Liebe so etwas wie ein Club, in den man unbedingt hinein musste, und gutes Aussehen war die Eintrittskarte. Es zog sie zu den draufgängerischen Jungs, zu den Jungs mit Geld, wobei das meist auch die waren, die mit Drogen dealten – entschlossen wirkende Jungs, die aus den Türen der bodegas traten, als kämen sie auf eine Party und nicht auf einen mit Müll übersäten Bürgersteig in einer schäbigen Straße voller Schlaglöcher. Jessica trat mit ähnlicher Entschlossenheit auf die Straße, wenn sie die vier Treppen von ihrer Wohnung nach unten gelaufen kam und aus dem Hausflur, von dessen Wänden die Farbe blätterte, lächelnd und voller Erwartung ins Freie trat.

Lourdes hielt ihre Tochter für eine Träumerin: „Sie wollte immer einen Märchenprinzen haben, und gleich eine Zofe dazu. Und ich habe ihr immer gesagt: ‚So was gibt’s nur in Büchern. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Sieh das endlich ein.’ Um es mal so zu sagen: Ihre Träume gehörten zu einer feineren Gesellschaft als sie selbst.“ Wenn ihre Tochter im dunklen Stiegenhaus verschwand, rief Lourdes ihr nach: „Gott hält dir kein weiches Kissen unter den Arsch, wenn du aus dem Himmel auf die Erde fällst.“

Sobald sie auf der Straße war, glaubte Jessica, alles Mögliche würde passieren. Üblicherweise aber … passierte nicht viel. Sie zog los, meist auf der Suche nach einem ihrer Freunde, oder verschwand mit Lillian, einer ihrer besten Freundinnen. Ihr kleiner Bruder Cesar streunte den ganzen Tag durch die Nachbarschaft, legte sich mit anderen Kindern an, die er heimlich als Freunde wollte. Manchmal brachte ihm Jessica ein paar Stück Pizza mit, die sie ihren Freunden abgeschwatzt hatte. An ihrer verführerischen Art nahm er sich ein Beispiel. „Meine Schwester war schlau“, sagte Cesar. „Sie hat mich als Köder benutzt. Wenn ein Typ auf sie wütend war, kam er dennoch vorbei, um mich abzuholen. ‚Das ist mein kleiner Bruder’, sagte sie dann. ‚Nimm ihn doch mit.’“ Meistens jedoch blieb Cesar allein zurück.

Dann saß er auf den kaputten Stufen vorm Haus seiner Mutter und vertrieb sich die Zeit damit, den älteren Jungs zuzuschauen, die auf der Straße das Sagen hatten. Jessica betrachtete Victor als ihren Freund und besuchte ihn regelmäßig am Echo Place, wo er Crack und Gras verkaufte. Victor hatte aber noch andere Mädchen, und auch Jessica war offen für andere Gelegenheiten. Im Herbst 1984 gingen Jessica und Lillian einmal, als sie eigentlich in der Schule hätten sein sollen, auf eine Toga-Party in einem Haus an der 187th und Crotona Avenue. Die beiden waren in diesem Schulschwänzertreffpunkt an der Crotona keine Unbekannten mehr.

Sie folgten den Jungs auf ihrem Weg zu den Handballplätzen oder schlugen die Zeit bei White Castle Burgers tot, und meistens trafen sich dann am Ende alle im Keller. Das Haus stand offiziell leer, aber die Kids hatten sich dort ein Zuhause geschaffen. An einer Wand hatten sie alte Sofas aufgestellt und an eine andere ein paar Betten gerückt. Es war immer ein DJ da und scratchte. Die Jungs übten Breakdance auf einem alten Teppich und drückten Gewichte. Die Mädchen taten nicht viel mehr als ihnen dabei zuzusehen oder sich vor alten, zerbrochenen Spiegeln, die an einem Sandsack lehnten, zurechtzumachen.

Auf der Toga-Party gingen Jessica und Lillian in einen der provisorisch als Schlafzimmer benutzten Räume, um ihre Kleider gegen weiße Laken auszutauschen. Zwei ältere Jungen, Puma und Chino, folgten ihnen. Sie sagten den Mädchen, sie seien hübsch, und dass ihre Körper gut aussahen, mit oder ohne Laken. „Im Ernst“, sagten sie, „statt auf die Party zu gehen, warum bleiben wir nicht gleich hier?“

Puma dealte mit Drogen, war aber kein gewöhnlicher Junge. Er hatte in Beat Street mitgewirkt, einem Film, der die Anfänge des Hip-Hop aus der Perspektive der Kids aus der Bronx erzählte, die ihn erfunden hatten. Der Film, der später ein Kultfilm werden sollte, versuchte zu zeigen, dass Selbstdarstellung hier eine Notwendigkeit und zum Überleben genauso wichtig war wie es Mütter, Freunde, Geld, Musik und Essen waren. Beat Street präsentierte einige Talente aus der Bronx, darunter auch Pumas Gruppe, die Rock Steady Crew. Puma hatte Leinwandpräsenz, und er war ein bemerkenswerter Breakdancer, doch zu dem Zeitpunkt, als er Jessica traf, war seine Karriere nach einem kurzen Höhenflug im Grunde bereits wieder vorbei.

Die internationale Tournee, die ihn bis nach Australien und Japan geführt hatte, war vorüber, und der Smoking, in dem er vor der Queen aufgetreten war, hing in einem Sack von der Reinigung in seinem Schrank. Er hatte sein ganzes Geld, das er verdient hatte, für Kleider, Turnschuhe und eine ganze Flotte von Mopeds für alle seine Freunde ausgegeben.

Jessica war eigentlich sofort von jedem angetan, der ihr Beachtung schenkte, aber dass Puma sich für sie interessierte, schmeichelte ihr besonders. Er war eine Berühmtheit. Er gab eine Soloperformance ganz allein für sie. Er war clever, und seine Mätzchen brachten sie zum Lachen. Eins führte zum anderen, und ehe man sich versah, lagen Jessica und Puma auf einem Haufen Mäntel und schmusten. Lillian und Chino, auf einem anderen Bett, taten das Gleiche.

Beide Mädchen wurden schwanger. Jessica versicherte ihrer Mutter, dass der Vater ihr Freund Victor sei, aber genau wissen konnte das natürlich niemand. Im folgenden Mai brachen Jessica und Lillian die Schule mitten im neunten Schuljahr ab. Im Sommer 1985, im Abstand von nur vier Tagen, brachten sie beide eine Tochter zur Welt. Big Daddy hielt während der Geburt Jessicas Hand. Dabei biss Jessica ihn einmal so fest, dass er blutete. Seine großväterliche Narbe trug Big Daddy voller Stolz.

© Deuticke ©

Literaturangaben:
LEBLANC, ADRIAN NICOLE: Zufallsfamilie. Liebe, Drogen, Gewalt und Jugend in der Bronx. Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Richard Obermayr. Deuticke Verlag, Wien 2008. 592 S., 24,90 €.

Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: