MÜNCHEN (BLK) – Der Carl Hanser Verlag veröffentlicht Yasmina Rezas Buch „Frühmorgens, abends oder nachts“. In diesem Erlebnisbericht erzählt die Autorin von der Wahlkampf-Tour des späteren französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, den sie ein Jahr lang – von 2006 bis 2007 – begleiten durfte, berichtet der Verlag.
Klappentext: Ob sie ihn auf seiner Wahlkampftour begleiten dürfe, hat Yasmina Reza im Frühjahr 2006 den damaligen französischen Innenminister Nicolas Sarkozy gefragt, und er hat sofort zugestimmt: Ein Jahr lang ist sie ihm gefolgt, von Paris bis in die tiefste Provinz, nach New York, London und Berlin, in Stahlfabriken, Schulen und Krankenhäuser und zu internen Besprechungen, bei denen kein Journalist zugelassen war. Reza erlebt den heutigen Präsidenten von Frankreich hinter den Kulissen aus nächster Nähe. Scharfsichtig, distanziert und bisweilen ironisch erzählt sie vom Leben Sarkozys, vom Pathos des politischen Alltags und seiner Monotonie. Zugleich beschreibt die meistgespielte Autorin des Gegenwartstheaters die Politik als suggestive Inszenierung. Rezas Wahlkampf-Tagebuch ist voller brillanter Beobachtungen und Details – eine Begegnung von Literatur und Politik auf höchstem Niveau.
Yasmina Reza wurde 1957 als Tochter eines iranischen Ingenieurs und einer ungarischen Geigerin geboren. Sie studierte Soziologie und Theaterwissenschaften in Paris. Rezas Theaterstücke sind bislang in mehr als 30 Sprachen übersetzt und werden weltweit aufgeführt. (mik/wip)
Leseprobe:
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Der Mann allein, das ist ein Traum. Der Mann allein, das ist ein Trugbild. Man stellt sich die Männer in einer sinnbildlichen Einsamkeit vor, aber sie tun nur so, als wären sie allein. Das ist ein Trick. Man nennt sie wilde Tiere, aber wilde Tiere sind allein. In ihrer Arena mögen sie wilde Tiere sein, woanders sind sie gezähmt.
Im Büro an der Place Beauvau, wo wir uns zum ersten Mal begegnen, hört er mir freundlich zu, und dann spüre ich sehr schnell, es ist nur ein Hauch, aber etwas sehr Vertrautes: Ungeduld. Er hat verstanden. Er fühlt sich „geehrt“, dass ich ihn porträtieren will. Er sagt: Mit einem Wort, Sie wollen dabei sein. Ich sage ja. Später rede ich mit meinem Freund Marc in einem Café. – Sie werden ihn sowieso erfinden. Das haben Schriftsteller mit Tyrannen gemeinsam, sie biegen sich die Welt nach ihrem Willen zurecht. Ich sage ja.
Weder Landschaft. Noch Stadt. Lange Zeit werde ich nichts sehen. Weder Orte noch ihn. An diesem Tag also eine Straße an nichts entlang. Schilder, Abzweigung. Lagerhallen. Konferenzort. Gedränge in der Garderobe. Es gibt die ganze Zeit irgendwas zu knabbern. In dem anonymen Schminkraum Trockenpflaumen, Schokolade, Fruchtpasteten. Er knabbert unablässig etwas. Knabbert und stopft sich voll, so schnell er kann. Mir war schon aufgefallen, dass er schnell isst, so, wie mir schon aufgefallen war, dass er hinkt.
Als er sich nach dem Termin in Agen umzieht, wiederholt er, die anderen wollen die Arbeitszeit verringern, wir wollen die Kaufkraft erhöhen. Das hat er schon in seiner Rede gesagt, vor sechstausend Zuhörern. Am Abend zuvor hatte er es feierlich gesagt, beim Dîner, bei ihm im Ministerium (eine etwas ulkige Feierlichkeit, eine Art ernsthafter Test). Er wiederholt den Satz vor denjenigen, die er nicht überzeugen muss, er ist glücklich, er wiederholt die Worte, während er sich ein anderes Hemd überzieht, immer noch ungläubig und wie ein Kind auf die x-te Zustimmung wartend.
Während André Glucksmann seine Fragen stellt (jede dauert fünfundzwanzig Minuten, mit langsamer, pädagogischer Stimme), sie betreffen die Zukunft Europas, die gemeinsame Energiepolitik, das afrikanische Drama, sinkt er immer tiefer in seinen Sessel, mit einem zum Inbild der Geduld stilisierten Oberkörper und mit närrischen Beinen, die sich wie ein Perpetuum Mobile spreizen und wieder schließen.
Gegen Ende der Gartenparty zum 14. Juli umarmt er Christian Clavier. Sie umarmen sich wie Schauspieler. Verrückt vor Freude darüber, sich zu mögen und sich im Angesicht der Welt als „du, mein Kumpel“ zu bezeichnen. Eine Umarmung, die ich tausendmal gesehen habe, auf allen Breitengraden, zwei Schauspieler, die sich unbedingt öffentlich umarmen müssen, von ihrer Leistung berauscht, voll übermenschlicher Wärme und mit diesem ostentativen Lachen.
Kurz darauf, während er seine Krawatte in die Reisetasche stopft, die er nach Rom mitnimmt, sagt er, haben Sie gesehen, wer da war? … Nein … Mathias’ Eltern. (Mathias? …) Mathias, ich glaube, jetzt weiß ich es wieder, ist ein kleiner Junge, der unlängst missbraucht und umgebracht wurde. Am Abend zuvor war es ihm gelungen, während er mit Glucksmann und Bruckner über Außenpolitik diskutierte, Mathias zu erwähnen. Von dem er mir schon Gott weiß wann erzählt hatte. Mathias’ Eltern. Mathias’ Eltern waren da. Ich nicke übertrieben feierlich. Was sonst soll man tun?
Er blättert in Le Point an dem Tag, als sein Buch Bekenntnisse erscheint. Neben den Auszügen stehen Fotos, er kommentiert sie, vielleicht hat er sie selbst ausgesucht. Wie schon häufig und schon lange, bevor ich ihm begegnet bin, frappiert mich seine Kindlichkeit. Kindlichkeit, Intelligenz, Männerkleidung. Krawatte und Anzüge passen nie zu seinem Alter. Der Anzug betont eine undefinierbare Verletzlichkeit. Auch das Lachen passt nicht zu seinem Alter. Ich finde, er ist in letzter Zeit elegant. Ich erwähne es Pierre Charon gegenüber. Ja, er ist elegant, er geht jetzt wieder zu Dior. Vorher war er bei Lanvin, normalerweise ist Lanvin obligatorisch, aber da muss man alles nachbessern, die Ärmel kürzen und lauter Gefummel, Dior passt ihm besser.
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Literaturangaben:
REZA, YASMINA: Frühmorgens, abends oder nachts. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag, München 2007. 208 S., 17,90 €.
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