Das Interesse, das Friedrich Nietzsches Werke zu seinen Lebzeiten nur ganz allmählich gefunden haben, wird ihnen – und ihrem Verfasser – heute, mehr als hundert Jahre nach seinem Tode, umso intensiver zuteil. Bald wird es zu allen seinen Werken mehrere umfassende wissenschaftliche Kommentare geben, und es dürfte sich aufgrund zunehmender Rezeptionsforschung eine Tertiärliteratur bilden, die sich stärker noch mit der Sekundärliteratur auseinandersetzt als unmittelbar mit Nietzsche selbst und seinen Schriften. In dieser Situation, in der es selbst Experten nicht immer ganz leicht fallen dürfte, alle Neuerscheinungen zur Kenntnis zu nehmen, kommt einführenden Darstellungen eine besondere Bedeutung zu.
Wiebrecht Ries, Universitätsprofessor für Philosophie, hat sich schon in seiner Dissertation von 1967 mit Nietzsche und der Wirkungsgeschichte seines Denkens beschäftigt. Gleich in der Einleitung überrascht Ries mit der These, dass Nietzsches „exzessives Schreiben“ von „der Begierde gesteuert“ gewesen sei, sich „aus den Krisen seines Lebens zu ‚retten‘.“
Ries möchte Nietzsches Denken und Philosophie als eine Form der Selbstheilung auffassen. Deshalb erklärt er die Entstehung des Gedankens der „ewigen Wiederkehr“ psychologisch: „Es ist die angestaute Energie eines ungeheuren Verlangens nach Dauer, die im Sommer 1871 [gemeint ist 1881] bei Nietzsche auf [sic] dem Hintergrund seiner Erwartung des baldigen Todes die Geburt des Gedanken der ewigen Wiederkehr erzeugt [sic].“ Der „Versuchung des Selbstmords“ konnte er sich zwar widersetzen, aber die Vorstellung vom Nichts, von der Endgültigkeit der Nicht-Existenz und „das ständige Dahinschwinden aller Dinge“ habe er nicht ausgehalten, so dass er sich in einer „Gier nach Verewigung“ dagegen gewehrt habe.
In Nietzsches „einzige[r] und letzte[r] Liebe“ zum Ewigkeitsgedanken, seiner „Fiktion eines mit Allem Fertig-Gewordensein[s]“, sieht Ries einen Widerspruch zu „der unablässigen Selbstüberwindung“, wie sie „Zarathustra“ fordert. Ries meint es offenbar ganz unironisch, wenn er schreibt: „Für die heutige Physik hat diese Hypothese keinen wissenschaftlichen Status.“ Und dem „gewöhnlichen Empfinden bleibt der Gedanke einer ewigen Wiederkehr des persönlichen Daseins als solcher absurd.“ Das ist einer der Gründe dafür, weshalb er mehrfach eine Nähe von Nietzsches Denken zur Mystik hervorhebt.
Ries erklärt die „Erfindung“ des „Übermenschen“ auf ähnliche Weise wie die „ewige Wiederkehr“: Nietzsche habe so sehr „an Einsamkeit und Versagung“ gelitten, dass ihm ein Weiterleben gleichsam nur durch eine „narzisstische“ Erhöhung möglich gewesen sei. „Im Winter 1882/83, einem [offenbar weiteren] Tiefpunkt seines Lebens, an dem er am Rande des Selbstmordes stand, erfindet er sich den ‚Übermenschen‘.“ Ein zweideutiges und ungeklärtes Verhältnis von Selbstvergessenheit und Machtstreben im Typus des Übermenschen ermögliche eine „fatale Politisierung“.
Auch der „Wille zur Macht“, mit dem Nietzsche „das Werden zu denken“ versucht habe und der „eine Formel für die unablässige ‚Selbst-Ueberwindung‘ des Lebens als Zeit“ sei, ist für Ries eine zweideutige Konzeption. Sie zeige, dass Nietzsche mythisch gedacht habe, was schon darin zum Ausdruck komme, dass der Wille zur Macht in seinem Spätwerk ein „Symbol des griechischen Gottes Dionysos“ sei. Obwohl es Nietzsche in seiner frühen wie späten Phase darum gegangen sei, die Welt jenseits der klassischen Metaphysik und des neuzeitlichen Subjektivismus zu deuten und obwohl die Entwertung der Metaphysik in Nietzsche ihren stärksten Ausdruck gefunden habe, sieht Ries im Willen zur Macht eine Metaphysik des Werdens, so dass Nietzsche gegen seine eigene Absicht Metaphysiker geblieben sei. Da Ries aber auf die Unbestimmtheit und das Metaphorische des Willens zur Macht hinweist, stellt sich die Frage, ob dies nicht gerade dem angeblich metaphysischen Charakter des Konzepts widerspricht?
Für Ries besteht die Bedeutung Nietzsches für die Gegenwart nicht in dessen zweifelhafter Rede von der ewigen Wiederkehr und dem Übermenschen, sondern in seinen erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Überlegungen. Auch und vor allem bezüglich der nachgelassenen Schriften ist für Ries ein wissenschaftlicher Positivismus wichtiges Kriterium der Beurteilung. Der Angriff auf das Christentum im „Antichrist“ sei aus „Sicht der Religionswissenschaft […] abwegig.“ Aufgrund eines „radikalen Antiegalitarismus“, einer „schrankenlose[n] Glorifizierung der Macht“ und eugenischer Überlegungen ist es für Ries „ein bedenkliches Buch“. Nietzsches spätes Denken sei stark biologisch akzentuiert und triebpsychologisch orientiert gewesen. Dies und seine „naturalistische Reduktion psychischer Symptome auf rein physiologische Prozesse“ hätten ihn zu äußerst flachen Interpretationen geführt.
Nietzsches Sichtweise sei im Laufe der Jahre zwar nüchterner geworden, doch kann sich diese Einschätzung von Ries nur auf sehr partikulare Aspekte beziehen, denn es sind Nietzsches „Radikalität“ und Misanthropie, die Ries besonders abzustoßen scheinen. Er meint diese Radikalität vor allem in Nietzsches Infragestellung „aller moralischen Grundlagen“ zu erkennen. Die Radikalität wird von Ries mehrfach hervorgehoben, und er bezeichnet sie als „erhitzt“, weil sie Nietzsche die sachliche Überlegung verwehrt habe. Nach Ries müsse die „Radikalität seines Denkens“ „eine ständige Herausforderung für uns“ bleiben, „sich gegen sie zu behaupten.“
Ries vertritt „ein nüchtern gewordenes Denken“, ein Denken, welches Nietzsche selbst in seiner „Verzweiflung an der Unerkennbarkeit der Welt“ nicht habe teilen können. Schon Franz Overbeck und Jacob Burckhardt hätten „das Aufgeregte“ seiner Schriften nicht verstanden, weshalb sie mit Schweigen reagiert hätten. Ries scheint diese Distanz verständlicher als Nietzsches „Aufgeregtheit“, und er stellt die Ausnahmeexistenz Nietzsche aus der ‚Sicht des normalen Menschenverstandes‘ dar. Für ihn sind Nietzsches philosophische Ideen offenbar einer geistigen Entrücktheit benachbart – oder anders formuliert: Für Ries ist es wohl nicht verwunderlich, dass ein Denker wie Nietzsche dem ‚Wahnsinn‘ verfiel.
Ries hält Nietzsches Denken in seinen großen Konzepten für gescheitert, für ein unvollendetes Denken, das auf halbem Wege stehen geblieben sei und sich in Anregungen und Andeutungen erschöpfe. Die Gedankenfigur des Zarathustra sei eine Maske des Autors und bleibe „eigentümlich blass“. Den philosophischen Weg vom „Zarathustra“ zur Selbstdarstellung „Ecce homo“ findet Ries nicht überzeugend, so dass er mit Karl Löwith beim späten, immer maßloser und radikaler werdenden Nietzsche nur noch Paradoxien finden kann. Mit einer süffisanten Bemerkung erinnert Ries daran, dass der Gang der Geschichte Nietzsches Hoffnung und „Wunschphantasie“ auf einen neuen Menschen, „der ‚eine Brücke‘ und ein Versprechen für den ‚Übermenschen‘ sein kann“, nicht erfüllt habe.
Dafür habe sich Nietzsches Prognose „weitgehend bewahrheitet“, wonach der zunehmende Atheismus von den Schuldgefühlen befreie, die das Christentum den Menschen auferlegt habe. Auch der verzweifelte Versuch, den Nihilismus zu überwinden, sei ihm nicht gelungen, weil er „das Leichtgewordensein in der Anerkennung eines ziel- und sinnlosen Werdens nicht erreicht“ habe. Schließlich finde sich bei Nietzsche keine Erklärung dafür, wie die für die Menschheit überlebenswichtige Beherrschung ihres stammesgeschichtlichen Erbes jenseits von Gut und Böse und nach der Auflösung der Religionen „konkret aussehen soll“.
Kaum ein Geisteswissenschaftler kann noch ein Buch schreiben, ohne von den Entdeckungen, den gedanklichen Vorarbeiten und Forschungsleistungen seiner Kollegen zu profitieren. Deshalb ist gerade von einer Einführung zu erwarten, dass sie aus der Literatur akkurat zitiert. Dabei geht es nicht allein um die bloße Richtigkeit, sondern um den Respekt gegenüber dem Zitierten. Und dies erst recht, wenn man eine gegensätzliche Deutung zu begründen versucht oder der zitierten Auffassung widerspricht – wie es Ries mit einer These des verstorbenen Nietzsche-Herausgebers Mazzino Montinari macht, der in seiner Einführung (dt. 1991) meinte: „all das macht ‚Also sprach Zarathustra‘ zum grandiosen Gegenteil einer dichterischen Schöpfung.“ Bei Ries ist dieser Satz Montinaris als Teil eines längeren Zitates zu finden, aber das Wort „grandios“ hat Ries ausgelassen.
In Alexander Nehamas’ „Nietzsche: Leben als Literatur“ heißt es: „Der Inhalt seiner Werke bleibt eine Sammlung philosophischer Gedanken“; Ries zitiert „bildet“ statt „bleibt“. Und wenn Nehamas über Nietzsches „Versuch, sein Leben in Literatur zu verwandeln“, schreibt, und Ries dies umformuliert zu: „Verwandlung seines Lebens in Literatur“, so hätte dies durchaus einen Hinweis erforderlich gemacht, selbst wenn er Nehamas häufiger zitiert. Außerdem ist es eine unerfreuliche Eigenart von Ries, nur längere Zitate und Wendungen aus der Sekundärliteratur zu belegen.
Wesentlich irritierender sind zahlreiche Fehler in den teilweise umfangreichen Nietzsche-Zitaten (nach der Kritischen Studienausgabe): mir sind mehr als 35 Übertragungsfehler aufgefallen, die ein unvorbereiteter Leser nicht ohne weiteres als Schreibfehler zu erkennen vermag; die Gesamtzahl liegt noch höher. Dabei ist zu bedenken, dass fortgelassene oder ergänzte Buchstaben einem Wort eine andere Bedeutung verleihen, es beispielsweise aus dem Plural in den Singular oder dem Imperfekt ins Präsens verwandeln können. So werden beispielsweise:
- Worte in der Satzstellung vertauscht [Seite 54, 56],
- Worte hinzugefügt („als“ [43]),
- Worte ausgelassen („noch“ [Seite 20], „darstellt“ [Seite 33], „omnium“ [54], „wir“ [64], „vordem“ [84], „nur“ [108], „mildestens“ [111], „mich“ [131], „jeder Art“ [136]),
- andere Worte gebildet („endgültige“ statt „endliche“ [34], „fortwirkend“ statt „fortwährend“ [39], „heerdenhaft“ statt „heerdenweise“ [54], „Religion“ statt „Moral“ [67], „Einzigartigkeit“ statt „ungeheure Einzigkeit“ [96]),
- und mehrere Worte hintereinander ausgelassen („selbst zu viel werthvollern und tiefern Zeiten“ [27]).
Ries kürzt im laufenden Text die Werke Nietzsches mit den sonst nur für Anmerkungen üblichen Siglen ab, was das Lesen nicht schöner werden und den Text nicht ansprechender erscheinen lässt. Was soll damit gespart werden, wenn man vom Z, der FW oder JGB liest? Unschön fällt zudem das durchgängige und übermäßige Hervorheben einzelner Worte des Ries’schen Textes durch Kursivdruck auf (das sich nicht mit Nietzsches Kunst des typographischen Nachdruck-Setzens und Betonens durch Kursivdruck oder Sperren vergleichen lässt) sowie das Nennen fast aller Namen mit abgekürzten Vornamen. In dem Kapitel über Nietzsches Jugendschriften sind die Anmerkungen durcheinandergeraten. Ein Register ist nicht vorhanden. Einige Angaben im Literaturverzeichnis (z.B. zu Krummel und hinsichtlich der englischen Originalausgaben von Danto und Nehamas) sind unvollständig. All dies sind für sich genommen die belanglosesten Details, in der Häufung verstärken sie den negativen Eindruck des Buches.
Ries schreibt Nietzsche die „Gefahr des Kontrollverlustes“ zu, der „von einer ungeheueren Euphorie als Reaktion auf einen unerträglich gewordenen Druck des Leidens an der Realität begleitet wird. Man lese die Briefe Nietzsches vom August 1881.“ – Was zeigen sie? Die Briefe Nietzsches aus dem August des Jahres 1881 sind die Briefe eines Überempfindsamen und Hypersensitiven, an dessen Worte augenscheinlich nicht die Maßstäbe eines Alltagslebens angelegt werden können, zumal sie auch deutliche Selbstkritik enthalten, wie sie die wenigsten ‚normalen‘ Menschen zu formulieren in der Lage wären. Ich kann Wiebrecht Ries’ Urteil daher nicht nachvollziehen. Auch irritierten mich – übrigens sehr gute – von Ries mit Zustimmung angeführte Zitate aus Schriften von Giorgio Colli (143), Mazzino Montinari (105) und Wolfgang Müller-Lauter (106), die sich mit den Auslegungen von Ries nicht vertragen, ihnen sogar widersprechen.
Wiederholt sieht Ries die Modernität Nietzsches darin, dass er Ideen vorwegnahm, die nach ihm auf ähnliche Weise formuliert oder wissenschaftlich bestätigt wurden. Ries’ Lieblingswendung dafür ist der „Vorgriff“, vor allem im Verhältnis von Sigmund Freud und Nietzsche. Mitunter erweckt Ries den Eindruck, als sei Nietzsche deshalb so bedeutend, weil er vorwegnahm, was Freuds Psychoanalyse später in ein System oder Welt- und Menschenbild brachte: diese wiederholten Hinweise wirken eher negativ als positiv. Durchgehend sieht Ries in den psychologischen Erkenntnissen Nietzsches seine besondere Bedeutung für uns Heutige. Aber ist es dann nicht absurd, das Wort Psychologe in Anführungszeichen zu setzen, wenn er es mit Bezug auf Nietzsche gebraucht?
Seltsam ist es, wenn Ries in der Einleitung aus einem Brief Nietzsches zitiert, der schon der Zeit seiner Umnachtung zuzurechnen ist, als wäre es ein ganz normaler Brief (und zwar jenen an Jacob Burckhardt vom 6. Januar 1889). Seltsam ist es ebenso, wenn Ries im Kapitel über die Basler Lehrjahre von 1869 bis 1879 einen wichtigen längeren Abschnitt aus einem Brief zitiert, den Nietzsche 1885 [sic] geschrieben hat (KSB, 7:62-63) und den Ries erstaunlicherweise mit den Worten kommentiert: „Diese Briefstelle beweist, dass sich sein Denken schon [?] zu dieser Zeit jeglicher Dogmatisierung verweigert.“
Trotz guter Bemerkungen und wichtiger Zitate handelt es sich insgesamt um ein nicht besonders angenehm zu lesendes und ein unsorgfältig und ohne Eleganz verfasstes Buch. Der Leser bekommt unwillkürlich den Eindruck, einen Text vor sich zu haben, der nicht überdacht, verbessert und ‚feingeschliffen‘ – schlimmer noch: der nicht lektoriert worden ist. Warum lässt ein angesehener, vor allem auch für eine akademische Leserschaft veröffentlichender Verlag einen seiner Autoren derart im Regen stehen? Umso kurioser, dass Ries im Vorwort seinem promovierten Lektor dankt! Muss Wiebrecht Ries am Ende alles allein verantworten?
Im ersten Satz seines Vorwortes bemerkt Ries, dass das Buch „die Summe aus meinen langjährigen Nietzsche-Vorlesungen und Seminaren“ zieht. Das lässt einiges erwarten. Ries hatte schon 1990 das Buch „Nietzsche zur Einführung“ veröffentlicht, das sehr erfolgreich ist und mittlerweile in der siebenten Auflage erscheint. In diesem ebenfalls fast 160 Seiten umfassenden, doch insgesamt kürzeren Text beschäftigt sich der Hauptteil (von etwas mehr als achtzig Seiten) gleichfalls mit den Werken Nietzsches: auch in „Nietzsche zur Einführung“ wird die Gliederung im wesentlichen durch die chronologische Abfolge der Titel von Nietzsches Büchern vorgegeben. Der Verdacht bestätigt sich: Mehrere der längeren Nietzsche-Zitate wurden in das neue Buch übernommen. Ries übernahm aber auch ganze Absätze seiner eigenen Ausführungen: zum Teil fast wörtlich, zum Teil ergänzte er sie und formulierte sie um. Und ob Ries’ Ausführungen zu Nietzsches Schriften – so Ries in seiner Einleitung – als „Analysen“ bezeichnet werden können, erscheint mir disputabel.
Wenn man bedenkt, dass manche Forscher mehrere Bücher über Nietzsche geschrieben haben, die sich unterschiedlichen Themen und Aspekten widmen, müsste die behutsame Frage erlaubt sein, ob eine 18-jährige Beschäftigung mit Nietzsche nicht genug Neues erbracht hat, um andere Akzente, Einsichten, Lesarten, Deutungen zu präsentieren und nicht bloß Zitate und Formulierungen aus einem zuerst 1990 erschienenen Buch zu übernehmen und zu ergänzen. Auch für eine Einführung hätte Nietzsche eine größere Anstrengung verdient.
Nietzsche ist der größte Berserker und zugleich der Empfindsamste und Achtsamste im Reich des Denkens. Das allein macht ihn – glücklicherweise nach wie vor – zu einem Außenseiter, dessen Denken nicht wirklich eingeordnet, festgelegt oder systematisiert werden kann. Sicher mag sich über Nietzsche nur der sein, der über Nietzsches Bedeutung für sich selbst, seine ureigensten Lektüreerlebnisse und -erfahrungen spricht – aber wer sich über Nietzsches Denken äußert, sollte sich seiner Aussagen nie zu sicher sein.
Wiebrecht Ries lässt Nietzsche zu einer Station der Philosophiegeschichte werden. Aber ist er nicht ein Solitär innerhalb dieser? Ries hebt wohl das Provozierende, den inhaltlichen wie formalen Traditionsbruch Nietzsches hervor, aber er kann nicht das Außerordentliche von Nietzsches Denken vermitteln – das viel stärker als das der philosophischen Systembauer zum Nach-, Weiter-, Zurück-, Voraus- und Über-Denken provoziert. Mazzino Montinari schrieb in seiner Aufsatzsammlung „Nietzsche lesen“: „Tatsächlich wird Nietzsche, mehr als andere Autoren, für seine Leser zu einem persönlichen Erlebnis.“ Ich habe nach der Lektüre des Buches von Wiebrecht Ries die seelen- und gedankenaufrührerische Ungeheuerlichkeit von Nietzsches Dasein und Denken nicht zu s p ü r e n vermocht. Ries scheint sein Denken auf eine neuartige Skepsis reduzieren zu wollen. Das ist weniger als der halbe Nietzsche.
Obwohl er Nietzsches Denken als ein offenes, gegen Ideologien imprägnierendes bestimmt, ist Ries nicht in der Lage, jedem Leser das Urteil über Nietzsche selbst zu überlassen. So formuliert Ries, was Mahnung sein soll und nicht viel mehr als bloße Selbstbestätigung ist: „Wer Nietzsche ernst nimmt, muss ihm kritisch gegenüberstehen.“ Ries tritt für das Paradox ein, Nietzsche weiterhin zu lesen, sich aber nicht zu sehr von ihm gefangen nehmen zu lassen. Da sich Ries in seiner Darstellung Nietzsche gegenüber recht kritisch zeigt, bedeutet das, dass er selbst ihn „ernst zu nehmen“ versteht: Wer Nietzsche freundlicher gesinnt ist und seine Bedeutung nicht auf ebenso konventionell-modische Weise bestimmen möchte, nähme ihn ergo – nicht ernst genug.
Aber warum sollten wir zaudern, Nietzsche zuzustimmen, auch wenn es unliebsame, waghalsige, gefährliche – das heißt: unser Leben ins Schwanken bringende, unsern ‚Glauben‘ verändernde – Gedanken sind? Noch leben wir doch …
Von Andreas R. Klose
Literaturangaben:
RIES, WIEBRECHT: Nietzsches Werke. Die großen Texte im Überblick. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008. 160 S., 29,90 €.
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