Dem Gutsbesitzer Manilow fällt die Pfeife samt Rohr auf den Boden. Vor Schreck und Verwunderung kann er den Mund noch nicht einmal schließen. Tatsächlich ist die Bitte des Herumreisenden Pawel Iwanowitsch Tschitschikow rätselhaft. Nikolai Gogols Held reist umher um „tote Seelen“ zu kaufen, also verstorbene Bauern, die in den Revisionslisten (Listen, die alle männlichen Leibeigenen aufführen, damit deren Kopfsteuer bezahlt werden kann) noch als lebend geführt werden. Warum, bleibt bis zum Ende des ersten Bandes ein Geheimnis.
Von Spannung und Witz durch das Russland des beginnenden 19ten Jahrhundert begleitet, besucht Tschitschikow die unterschiedlichsten Gutsbesitzer. Diese parodieren in ihrer grotesken Stereotypisierung die russische Gesellschaft, sind aber auch gleichzeitig eine Liebeserklärung an den Facettenreichtum Russlands. Die satirische Schärfe, mit der der Autor den tollpatschigen Gutsbesitzer Sobakewitsch anderen auf die Füße trampeln und ihn seinen grob geschnitzten Möbeln ähneln lässt, bettet Gogol herzlich in eine wundervolle Sprache. In „Die toten Seelen“ vereinen sich Komik mit Tragik und Satire, Alltäglichkeit mit Heldentum und Vergötterung Russlands mit einem sozialkritischen Ton. Ob nun die toten Bauern in von Tschitschikow imaginierten Dialogen wieder zum Leben erwachen oder sein Pferd sich Gedanken über ungerechte Haferportionen macht—Gogols Werk verspritzt Lebendigkeit und Vielseitigkeit.
„Die toten Seelen“ war eigentlich als Trilogie konzipiert; der erste Band erschien 1842, den zweiten Band warf Gogol verzweifelt ins Feuer, sodass er posthum nur als Fragment veröffentlicht werden konnte. Dieses Fragment überzeugt zwar durch sprachlich differenzierte Landschaftsbeschreibungen sowie positiver und feiner gezeichnete Charaktere; die humorvolle Lebhaftigkeit des ersten Bandes lässt sich aber kaum wieder finden.
Trotzdem ist das Poem in seiner Gesamtheit großartig. Es begeistert nicht nur durch satirisch-liebevolle Charakterdarstellungen und eine detaillierte Porträtierung des damaligen Russlands, sondern vor allem durch seine Sprache. Mit Feingefühl und Finesse bringt Gogol Zustände haargenau auf den Punkt. Ob der Koch „holterdiepolter“ pantscht, Beamte „genasführt“ werden, der Kater mit seinem Auge „linst“ oder das Leben „sauertöpfisch“ blickt – Gogol sprudelt vor seltenen Wörtern, die so schön sind, dass man sich wirklich freut, sie zu lesen, und sich gleichzeitig fragt, warum diese Wörter eigentlich nicht öfter benutzt werden.
Und so ist „Die toten Seelen“ nicht nur unterhaltsam, sondern auch noch lehrreich. Aus einer Anmerkung Gogols können wir beispielsweise entnehmen, dass eine Koramora eine große, lange, lahme Mücke ist. Außerdem lehrt uns Gogol, was mit einem Menschen geschehen kann, dem die Liebe zum Guten fehlt. Der sich von einer Welt, die durch zwanghafte Modernität und ausländische Einflüsse immer gefährlicher wird, verführen lässt, anstatt sich auf immaterielle Werte zu besinnen. Allerdings können wir nur annehmen, dass dies die abschließende Lehre ist, denn das Schlusskapitel bricht mitten im Satz ab. „Die toten Seelen“ ist eben ein Fragment geblieben. Zwischendrin fehlt einmal eine Seite und mehrmals verwirren Sprünge und Auslassungen. Doch obwohl es unvollendet blieb, wurde „Die toten Seelen“ zu einem Welterfolg. Ein deutlicher Beweis seiner Genialität.
Von Nora Lassahn
Literaturangabe:
GOGOL, NIKOLAI: Die toten Seelen. Ein Poem. Reclam Bibliothek, Stuttgart 2009. 600 S., 26,90 €.
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