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Notizen aus der Tiefe

Ein Wechsel von philosophischen Fragen und Bildfetzen, Beschwörung und Reflexion

© Die Berliner Literaturkritik, 09.07.09

MÜNCHEN (BLK) – Im März 2009 ist im Carl Hanser Verlag der Prosaband „Notizen aus der  Tiefe“ von Philippe Jaccottet erschienen.

Klappentext: Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Der in Frankreich lebende schweizerische Autor Philippe Jaccottet ist einer der großen europäischen Dichter. Dieser Prosaband vereint Texte, die sich den Tragödien unserer Gegenwart stellen, aber auch von persönlichen Niederlagen handeln. „Israel, blaues Heft“ ist ein Reisebericht über die Krisenregion in Nahost; „Das Wort Russland“ beschreibt, ausgehend von Jaccottets Erfahrungen als Übersetzer von Ossip Mandelstam, die Bedeutung der russischen Literatur für die Darstellung des menschlichen Leidens, von Dostojewski bis zu den Gulag-Erzählungen von Schalamow; und „Notizen aus der Tiefe“ ist eine persönliche Annäherung an Krankheit und Tod.

Philippe Jaccottet, geboren 1925 in der Schweiz, ist ein französisch schreibender Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er besuchte die Universität in Lausanne und zog 1953 nach Grignan, Südfrankreich, wo er bis heute mit seiner Frau Anne-Marie Haessler lebt. (rud/ber)

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

Als wir uns das erste Mal in die Altstadt wagten und die Gassen des arabischen Viertels um so leerer wurden, je näher wir den in diesen Tagen übrigens unbetretbaren Moscheen kamen, fühlten wir am Ende — vielleicht vor allem wegen der Warnungen unserer Gastgeber — ein wenig Angst. Wir hätten sie auch an jenem anderen Tag verspüren können, diesmal wegen der Menge, die sich in den gleichen Vierteln drängte; Moslems mit ihrer Keffije auf dem Kopf begegneten beim Verlassen der Moscheen christlichen Pilgern, die sich im Wirrwarr der Via Dolorosa unter einem schweren Kreuz krümmten, während mitten im arabischen Viertel, einer kleinen Synagoge gegenüber, die dort noch wie zur Herausforderung stand, israelische Flaggen einen Balkon schmückten; und immer, fast bei jedem Schritt, bewaffnete Soldaten auf ihren Wachtposten; und ebenfalls Waffen, aber aus Plastik, in den Händen fast aller kleinen Araber. In diesen Straßen kann man nicht als einfacher Reisender herumlaufen, wie wir es oftmals in Paris, in Rom gemacht haben, wie wir es (aber da bin ich mir nicht mehr so sicher, seit wir dort gewesen sind) in Moskau machen würden oder selbst in Kairo oder Fez. Man befindet sich an einem allzu einzigartigen Ort, wie in einem Keller, in dem über Jahrhunderte religiöse Alkoholika gegoren haben, die am Anfang wundervoll kräftig und rein gewesen sind, nach diesem Gärungsprozeß jedoch nur noch gefährliche Ausdünstungen von sich geben. Deshalb kann man nicht länger einfacher Flaneur sein, auf der Suche nach vergangenen Schönheiten oder Wahrheiten, nach gegenwärtigem Leben. Die Nähe der Gewalt gibt dem, was man sieht, mehr Kontur, oder eine andere Kontur; man bildet sich ein, doch zum großen Teil ist das eine Illusion, dem Wirklichen näher zu sein, stärker einbezogen zu sein in die Gegenwart, und sei’s nur durch jenes winzige Risiko, das wir, so sagte man uns, eingehen, wenn wir hierherkommen. Nun sind wir also am Heiligen Grab.

Chateaubriand schreibt über seinen Besuch im Jahre 1806: „Ich kniete fast eine halbe Stunde in dem kleinen Raum des Heiligen Grabes, die Blicke auf den Stein geheftet, ohne sie davon lösen zu können“; und etwas weiter: „Die Grabeskirche, bestehend aus mehreren Kirchen, errichtet auf unebenem Gelände, erleuchtet durch eine Vielzahl von Lichtern, ist auf einzigartige Weise geheimnisvoll: es herrscht eine Dunkelheit, die Frömmigkeit und Andacht der Seele begünstigt. Christliche Priester der verschiedenen Sekten bewohnen die verschiedenen Teile des Bauwerks. Hoch von den Arkaden, wo sie sich eingenistet haben gleich Tauben, aus der Tiefe der Kapellen und der Untergeschosse lassen sie zu allen Tagesund Nachtzeiten ihre Gesänge hören: die Orgel des lateinischen Geistlichen, die Zimbeln des abessinischen Priesters, die Stimme des griechischen Kalogeros, das Gebet des armenischen Einsiedlers, jene Art von Klage des koptischen Mönchs dringen einem nacheinander oder alle gleichzeitig ins Ohr; man weiß nicht, von wo diese Konzerte ausgehen; man atmet den Duft des Weihrauchs, ohne die Hand zu sehen, die ihn entzündet: vorübergehen, hinter den Säulen verschwinden, sich im Dunkel des Tempels verlieren sieht man nur den Oberpriester, der das furchtbarste aller Mysterien feiern wird, genau an dem Ort, da es sich begeben hat.“

Gewiß, ich betrat denselben Raum fast zweihundert Jahre später ohne diesen kämpferischen Glauben; dennoch: auch ich bin in der christlichen Religion erzogen worden, sei’s auch in ihrer protestantischen Gestalt, und die Passion ist mir so gegenwärtig geworden, zunächst durch die Evangelien, dann durch die Malerei — sehr viele und sehr unterschiedliche Meisterwerke — und vor allem durch die Musik von Bach, daß der Besuch eines solchen Heiligtums mich nicht gleichgültig lassen konnte. (Um so weniger, als ich nicht glaube, einen irreligiösen Geist zu haben.) Doch das wenigste, was man sagen kann: Hier herrscht nicht länger „eine Dunkelheit, die Frömmigkeit und Andacht der Seele begünstigt“: die nichtige Neugier der Touristen, allzu viele, wo immer sie auch sind, und um so einfältiger, möchte man sagen, je mehr sie sind, die fanatische oder dumme Erregung der Pilger und die bekanntlich noch niemals friedliche Koexistenz der verschiedenen religiösen Strömungen, denen die Aufsicht über die heiligen Stätten obliegt, geben einem eher ein Gefühl von Schwindel als von Inbrunst oder Ehrfurcht. Am Eingang, auf den sogenannten Salbungsstein (der so heißt, weil hier der vom Kreuz abgenommene Leichnam Christi mit einer Mischung von Myrrhe und Aloe gesalbt worden sein soll), eine schöne Platte aus rötlichem Kalkstein, über der eine Gruppe von hängenden Lampen an japanische Lampions denken läßt, legt eine Frau mit einer außerordentlich flinken Bewegung zwischen die als Opfergabe hingeworfenen, schnell verwelkten Blumen ein paar kleine Steine und nimmt sie wieder an sich: auf diese Weise verschafft sie sich Reliquien. Man glaubt jemanden zu sehen, der eine Botschaft schreibt und sofort wieder auslöscht, als fürchte er, man könnte sie über seine Schulter hinweg entziffern. In diesen Bewegungen, wie auch in jenen, die man in anderen Heiligtümern bei Pilgern wahrnimmt, die mit der Hand oder den Lippen Statuen, Gräber, Reliquien berühren, liegt dieselbe, fast fiebrige, fast flüchtige Hast, die manchmal etwas beinahe Obszönes an sich hat. (Plötzlich denke ich an die außerordentliche Geschicklichkeit, mit der die Croupiers auf dem grünen Tuch den Einsatz zusammenraffen. Doch hier heimst man nur ein paar unsichtbare Münzen ein, um sich etwas weniger bedürftig zu fühlen vor der Härte des Schicksals.)

An der Rückseite der Grabstätte Christi haben die Kopten das Recht auf eine winzig kleine, rosa ausgeschlagene Kapelle (die ich mir zumindest heute so vorstelle). Ein Mönch mit ausgemergeltem, zartem Gesicht, das umrahmt wird von einer schwarzen Kapuze, wie sie einst ein kleines Mädchen vom Lande im Winter hätte tragen können, bittet uns mit gütiger Stimme einzutreten, um uns einen Teil des „wahren Grabes“ zu zeigen — was unausgesprochen heißt, daß jenes andere, vor dem seit Jahrhunderten so viele Pilger vorbeigeschritten sind, falsch ist — und uns mit einem Andachtsbild ein winziges Kruzifix zu schenken. Man hätte diese allzu enge Nische für den Stand einer Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt halten können. Gegenüber bildet die düstere Kapelle der Syrer, in der als einziger Schmuck ein Altar mit abgeblättertem Gold langsam zerfällt, den Eingang zum Grab des Joseph von Arimathias. Ein Trupp tschechischer Pilger lauscht den Erklärungen des Fremdenführers: eine Frau drückt uns im Vorübergehen fieberhaft die Hand, die Augen voller Tränen.

In der Hauptkirche — dem „Katholikon“ — die ihnen vorbehalten ist, feiern armenische Mönche den Gottesdienst. Einer von ihnen, aufrecht in der Mitte vor der Ikonostase, hält eine lange und, wie mir scheint, leidenschaftliche Predigt. An den Seiten andere Mönche und ein paar Frauen in Schwarz; keine Musik, kein Gesang. Nach dem Ende des Gottesdienstes gehen sie in einer Prozession hinaus, vorneweg zwei Meßdiener, mit rotem Fez und schwerem, silberknaufgeschmücktem Stock, den sie gebieterisch auf den Boden stampfen. Einen dieser Mönche, der aus der Reihe getreten ist und zum Ausblasen der einzelnen Kerzen ein sehr langes Metallrohr mit einer Gummibirne am unteren Ende benutzt, überrasche ich jedoch dabei, wie er mit diesem seltsamen Kerzenlöscher einer alten Kirchenbesucherin über den Kopf fährt, als wolle er ihr ein leichtes Lüftchen in die Haare blasen. So mischen sich auf seltsame Weise Zeiten und Stimmungen: feierlich oder scherzhaft, ernst oder exaltiert. Wir sind davon eher verstört als bewegt. Genauso ist es in der Golgatha-Kapelle, wo allzu viel Flitterkram einen Ort überfüllt, den man sich nur kahl vorstellen kann — diesen Ort, der so treffend „Schädelstätte“ heißt — und außerhalb der Stadt, zwischen einer Erde, die zu beben droht, und einem stürmischen Himmel. Wir verlassen drum so schnell wie möglich diese Suks der Neugier und des Aberglaubens.

©Carl Hanser Verlag©

Literaturangabe:

JACCOTTET, PHILIPPE: Notizen aus der Tiefe. Übersetz aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2009. 168 S., 17,90 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag


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