Von Karolin Köcher
In vielen Familien haben die Kinder die Macht übernommen und bestimmen, wo es lang geht. Statt im positiven Sinne zu erziehen, stehlen sich immer mehr Eltern aus der Verantwortung. Gründe dafür sind oft Stress, Überforderung und falsch verstandene Liebe, meint Michael Winterhoff in seinem neuen Buch „Tyrannen müssen nicht sein“ – eine Weiterführung seines Bestsellers „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. 350 000 verkaufte Exemplare – der Kinder- und Jugendpsychiater hat einen Nerv getroffen. Auch das zweite Buch steht kurz nach seinem Erscheinen auf der Spiegel-Bestsellerliste jetzt auf Platz fünf. „Die Leser wollten Antworten, da haben wir noch einmal nachgelegt“, sagt Karin Rohde vom Gütersloher Verlagshaus. Das Buch des Kinderarztes ist spannend zu lesen, liefert aber keine allgemeingültigen Lösungen auf Erziehungsfragen.
Winterhoffs Kernthese: Immer mehr Kinder wachsen in einer Beziehungsstörung auf. Erwachsene sehen Kinder nicht mehr als Kinder, sondern als Partner, mit denen jede Alltagsfrage ausdiskutiert werden muss; Eltern können zum Teil nicht mehr zwischen sich und dem Kind unterscheiden. Die Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt existiert nicht mehr. So werde notwendige Abgrenzung unmöglich und führe zu kleinen „Monstern“ und späteren egoistischen und lebensuntüchtigen Erwachsenen. Eltern hätten es weitgehend verlernt „intuitiv“ zu handeln und ihrem Nachwuchs die Kindheit geraubt, indem sie ihnen aus falsch verstandener Gleichbehandlung nicht altersgerechte Entscheidungen zumuteten.
Wieder andere ließen ihren Kindern alles durchgehen, weil sie um jeden Preis geliebt werden wollten und hätten sich damit in eine fatale Abhängigkeit begeben. Von einem „emotionalen Missbrauch“ spricht der Autor, wenn Erwachsene durch ihre Kinder unbewusst eigene Defizite ausgleichen wollten. Das sind schwere Vorwürfe.
Doch in den Praxen der Ergotherapeuten, Logopäden und Psychotherapeuten sitzen immer mehr Kinder. Der Erziehungsdruck, der von außen vor allem auf Eltern der Mittelschicht ausgeübt werde, ist enorm. Die Angst, das eigene Kind könnte sich nicht erwartungsgemäß entwickeln, führe zu einem immer verkrampfteren Umgang mit dem Kind, schreibt Winterhoff. Seine Kritik richtet sich aber auch an öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen. Wenn er von notwendigen Strukturen spricht, fehlenden Respekt und Anpassungsfähigkeit kritisiert, schlägt er damit in die gleiche Kerbe wie der ehemalige Internatsleiter von Schloss Salem Bernhard Bueb in seinem vieldiskutierten Buch „Lob der Disziplin“. Wenn Winterhoff mehr Regeln fordert, eine feste Sitzordnung in der Schule und das Aufstehen der Schüler, wenn der Lehrer die Klasse betritt, erinnert dies ein wenig an den Drill vergangener Tage.
Die Machtumkehr zwischen Erwachsenem und Kind als Ursache für die Probleme mit Kindern und Jugendlichen zu erkennen, wird für die Zukunft einer der entscheidenden Punkte sein, meint Winterhoff und rät zu Selbstüberprüfung und Entschleunigung. Auch die Suche nach Antworten auf die Frage nach mehr Sinn im Alltag sei ein erster Schritt. „Immer mehr Erwachsene sind ständig in Bewegung, haben immer etwas zu erledigen und fallen in ein tiefes Loch, wenn freie Zeit bevorsteht“, meint der Autor. Da wundere es nicht, wenn auch Kinder ohne Playstation und ständige Freizeitangebote kaum noch etwas mit sich anzufangen wüssten.
Literaturangaben:
WINTERHOFF, MICHAEL: Tyrannen müssen nicht sein. Warum Erziehung allein nicht reicht. Auswege. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009. 192 S., 17,95 €.
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