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Ödipus als überheblicher Durchschnittsbürger

Gotscheff inzensiert „Ödipus, Tyrann“ im Hamburger Theater

© Die Berliner Literaturkritik, 07.12.09

Von Ulrike Cordes

HAMBURG (BLK) - ­ Mit großkotziger Gebärde verkündet Ödipus (Bernd Grawert), der in Theben seit zehn Jahren tyrannisch herrscht, denjenigen zu finden, der einst seinen Vorgänger Laios tötete und damit die Pest über die Stadt gebracht hat. „Forschen werd ich“, ruft er aus. Doch der blinde Seher Teresias (Bibiana Beglau) steht wie erstarrt, zeigt mit ausgestrecktem Arm auf ihn: „Der Mörder, den du suchst, ich sage, du bist der.“ Schließlich wird Ödipus die ganze, unfassbar entsetzliche Wahrheit über sich selbst erkennen: dass er seinen eigenen Vater umgebracht, seine Mutter geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt hat. Wuchtig, karg, stimmig und mit expressiver Körpersprache inszeniert Dimiter Gotscheff „Ödipus, Tyrann“ im Hamburger Thalia Theater: Am Freitagabend hat er damit die Premierenbesucher überzeugt. Für das gesamte Ensemble gab es starken Applaus.

Das Drama schrieb Sophokles um 425 vor Christus. Hölderlin schuf 1804 eine Übersetzung, die Heiner Müller in den 60er Jahren bearbeitete. Eine Mahnung, dass der Mensch seinem von Göttern vorherbestimmten Schicksal nicht entfliehen kann, hatte der antike Grieche in seinem Werk formuliert. DDR-Dramatiker Müller (1929-1995) verstand es politisch: In seiner Fassung betonte er die Dumpfheit von Machthabern, die den Feind stets außen denken und die Realität zugunsten von Wunschdenken ausblenden.

Der 66-jährige Bulgare Gotscheff, der mit Interpretationen seines Freundes Müller im Westen seit Jahrzehnten Erfolge feiert, zeigt Ödipus als überheblichen, egomanischen Durchschnittsbürger, der sich nie mit sich selbst auseinandergesetzt hat. Oberflächlich, grobschlächtig, geradezu albern hat er seine soziale Rolle behauptet, sein Liebesleben mit der älteren, erotischen Jokaste (Karin Neuhäuser) genossen.

Der weite, düstere Bühnenraum (Ausstattung: Mark Lammert) spiegelt seine Seele. Nur eine riesige, gelbe Keule hängt von der Decke ­ wohl Symbol allgegenwärtiger Schicksalsschläge. Die Handlung ins Rollen bringt erst das allgemeine Leid: „Bester der Menschen, richte wieder auf die Stadt“ flehen Priester (Patrycia Ziolkowska) und Chor, ein Häuflein hagerer Gestalten in viel zu weiten schwarzen Anzügen.

Die Antwort des Ödipus, der Sweatshirt und ausgebeulte Hosen trägt, verrät gleich dessen Hochmut: „Des Gottes Hand, des Toten Speer bin ich.“ Da hat er längst seinen Schwager Kreon (Beglau) zum Orakel von Delphi geschickt, um dessen Meinung zu erfahren. Als Kreon berichtet, der Mord an Laios sei noch nicht gesühnt, bezichtigt Ödipus erst einmal ihn selbst der Tat. Doch dann bildet seine gnadenlose Aufdeckung der ihm unbewussten persönlichen Schuld die eigentliche Tragödie.

Nicht nur der Wortlaut, sondern auch der hohe Klageton des Chors künden bereits von existenzieller Not: Das Elend der Menschen geht bei Sophokles-Hölderlin-Müller über das Sagbare hinaus. So verlagert es der Regisseur sinnfällig ins Körperliche, zeigt archaische, oft überzogene Verzweiflungsgesten.

Kreon etwa vermittelt das Unglück über seine verspannte Physis, indem er sich erst auf dem Boden wälzt, dann mit Bewegungen und Krächzen eines Raben entschwindet. Jokaste ­ am Anfang noch selig tänzelnd ­ dreht sich im Rausch des Schreckens wie ein Derwisch, weil sie die Blutschande mit dem Sohn nicht wahrhaben will. Wie ein Berserker agiert vor allem Ödipus, wenn er die Wahrheit ans Tageslicht holt. Er, der dank Glück, Ruhm und Reichtum „on top of the world“ zu leben schien, wälzt sich am Ende - mit selbst durchstochenen Augen - jammernd am Boden. „Glücklos hat ihn gefunden die alles schauende Zeit“, erkennt seine Magd. (dpa)


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