Von Roland H. Wiegenstein
Nein, es ist nicht jenes „alte Europa“ gemeint, von dem weiland Verteidigungsminister Donald Rumsfeld so verächtlich sprach, ihm das „neue“ zum Vorbild empfahl, das doch aus nichts anderem bestand, als jenen osteuropäischen Satellitenstaaten, die aus der sowjetischen Erbmasse in die NATO gewechselt waren. Oder doch? Der Berner Historiker Peter Blickle definiert sein „Altes Europa“, das er vom Hochmittelalter bis zur Moderne zu untersuchen verspricht, freilich nicht so sehr geografisch wie der Amerikaner, aber dass einige der heutigen osteuropäischen Staaten, etwa Polen, dazugehören, das meint er wohl. Freilich: am Rande. Am Rande (und nur gelegentlich dynastisch eingebunden) des „Römischen Reichs“ zweiter Zählung, auf das sich die Kaiser seit Karl dem Großen beriefen, und das sie später als eines der „deutschen Nation“ begriffen. Blickle lässt das Mittelalter meist außen vor, seine Epochengeschichte umfasst Europa etwa vom Jahr 1200 bis 1789, als mit der Französischen Revolution für ihn die „Moderne“ begann, deren Wurzeln er allerdings bis weit in die Vergangenheit reichen lässt.
„Was Europa formt, sind Ordnungen, die zivilisieren. ‚Ordnung machen‘ ist der Dachbegriff für alle Formen von Satzungen, Geboten und Verboten (Gesetzgebung), die in der Zivilisierung ihre gesellschaftliche Entsprechung finden.“
Wir haben es bei diesem Buch weder mit einer Ereignis-, noch einer Sozialgeschichte zu tun, sondern mit dem ebenso tollkühnen wie plausiblen Versuch, die Struktur des Alten Kontinents zu analysieren. Das beginnt schon im ersten Kapitel mit der lapidaren Feststellung: „Die legitime Ausübung von Macht und Gewalt im Alten Europa gründet im Haus. Macht und Gewalt oder Herrschaft, wie die deutsche Sprache auch gerne sagt, werden im Haus ausgeübt und sind an ein Haus gebunden. Dies gilt, seit das Haus das strukturierende Prinzip Europas ist. Die Herrschaft im Haus wird durch den Hausherrn, den Hauswirt, den Hausvater ausgeübt. Je nach der Verbindung, die unter den Häusern bestand, ergaben sich daraus zwei Grundfiguren, eine vertikale, nach der die Häuser entsprechend dem gesellschaftlichen Status ihrer Inhaber und deren wechselseitiger Abhängigkeit gestaffelt waren, vom Haus des Bauern bis zur maison royal. Hieraus erklärt sich die Monarchie als besonders dauerhafte, nahezu konkurrenzlose Staats- und Herrschaftsform. Treten die Häuser horizontal auf nachbarschaftlicher Ebene in Beziehung zueinander, entsteht die Gemeinde als Verband prinzipiell gleichwertiger Hausvorstände.“ So Blickle.
Mit dieser so einleuchtenden Definition wird all das gefasst, was Blickle darstellt, denn er geht davon aus, dass diese beiden Organisationen des Politischen, nämlich die Monarchie und die „Hausväterdemokratie“ (als dem Zusammenschluss jener vielen, die ihre Häuser gemeinsam organisierten) nur „schwer kompatibel“ gewesen seien. Dem ständigen Kampf zwischen zwei Prinzipien, die einander in die Quere kamen, gilt sein Interesse.
Das feste Haus, das „aus mehr als ein paar Balken und Brettern bestand“ gibt es nach den unruhigen Zeiten der Völkerwanderung bis zum 13. Jahrhundert nur vereinzelt oder regional. Noch im Hochmittelalter reflektieren Landrechte das Haus nicht unter den Immobilien, sondern als „Fahrhabe.“ „Zuvor gab es für die konzentriert zusammenlebenden Menschen an den königlichen, bischöflichen, adeligen und klösterlichen Herrenhöfen Massenquartiere. Danach, seit dem 19. Jahrhundert haben Industrialisierung und Pauperismus Menschen in kasernenähnliche Wohnblöcke getrieben und zu Mietern gemacht.“ Mag solche apodiktische Feststellung zunächst befremden, so gelingt es dem Autor doch, sie immer mehr zu differenzieren, ohne dass dabei doch das „Grundprinzip“ aus dem Blick geriete.
Also befasst er sich zuerst ausführlich mit dem Haus und der Hauswirtschaft als einer, die wesentlich und für Jahrhunderte Subsistenzwirtschaft war, der „Hausnotdurft“ diente. Erst vergleichweise spät, mit dem Wachstum der Städte, gab es einen geregelten Austausch von agrarischen und gewerblichen Produkten, diese Städte selbst bewahrten lange einen ackerbürgerlichen Charakter. „Das Prinzip der Hausnotdurft mobilisierte immer eine hohe Abwehrkraft gegenüber herrschaftlichen und staatlichen Forderungen.“ Über die sich aus diesem Widerstand ergebenden Streitigkeiten und Kämpfe durch die Jahrhunderte, die häufig genug in der Leibeigenschaft endeten und nur selten (etwa in der Schweiz) mit dem Sieg der „Hausväter“, erfahren wir sehr viel Detailliertes in Blickles Buch. Etwa wenn Bauern die Hand- und Spanndienste für den adligen Herrn verweigerten, weil etwa die Errichtung von Brauereien oder Ziegelbrennereien Kommerz, Luxus und also mehr sei, als adlige Hausnotdurft fordern durfte. Blickle befasst sich im Kapitel über das Haus auch mit der Stellung der Hausfrau und natürlich mit den „Haustheorien“, die zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert im Schwange waren und in Luther ihren einflussreichsten Protagonisten hatten. Noch bei Kant, Rousseau und in der „Bill of rights“ finden sich deutliche Spuren dieser alteuropäischen Theorien. Von dort ist der Übergang zu den „herrschenden Häusern“ leicht zu finden, und damit zu des Autors ausführlicher Behandlung der politischen Ordnungen des von ihm gewählten Zeitabschnitts. Hier wird auch das Verhältnis des Herrschers (Königs) zu den Ständen (Adel, Klerus) behandelt und der Weg verfolgt, der zum Absolutismus führte und manchmal – wiederum in der Schweiz – auch zu einer korporativen Demokratie, also der horizontalen Schiene seiner Hausmetapher. Der dritte Stand (Gemeinden, Bürger und Bauern) spielt durch die Jahrhunderte meist nur eine marginale Rolle, vor allem in der Auflehnung gegen die Vertikale. Der Weg zum Gesellschaftsvertrag war lang und mit Leichen gepflastert.
Er wäre nie möglich gewesen ohne eben jene horizontale Verfassung, in der Blickle die Kommune als „Urgestein“ des Politischen erscheint. Es war die Selbstverwaltung der Gemeinden (der größeren Bauerngemeinden und Städte), die rebellierte gegen die „Herrschaft“. Es bedurfte des willentlichen Aktes der coniuratio, also des beschworenen Zusammenstehens von Gemeinden, um überhaupt Chancen von Selbstverwaltung und eigener Gerichtsverwaltung zu erreichen. In diesem Kapitel wird der lange Vorlauf zu einer Verfassung behandelt, die schließlich damit endete, dass man dem König den Kopf vom Rumpf trennte. Juristen haben alleweil – auf beiden Seiten der virtuellen Barrikade – das Ihre gesagt, die der Monarchen waren meist mächtiger.
Mochte das Haus auch die Herrschaft und die Wirtschaft prägen, so war es doch eher schwach in der Bestimmung der Sakralität und Spiritualität Europas, obwohl dies „durch und durch christlich“ war. Blickle behandelt die Frömmigkeit des Alten Europa, zentriert in Pfarreien und Klöstern, den Paradigmenwechsel von Christus dem König zu Jesus dem Leidensmann und die Rolle, die dabei auf der einen Seite eine übermächtige Höllenfurcht spielte, auf der anderen die Möglichkeit, das Heil durch gute Werke zu erlangen. Für diese, angesichts von immer mehr Menschen ohne Haus notwendige Hilfestellung wurde das in der Bibel nicht belegte Fegefeuer erfunden, das fast jedem droht und dessen Verweildauer sich durch gute Werke abkürzen lässt. Blickle fasst das in den prägnanten Sätzen zusammen: „Für das Mitleiden der Menschen mit dem Leiden Jesu Christi wurde als Gegenleistung das Mitleiden Gottes mit dem Elend der Welt eingefordert. Besser konnte man Diesseits und Jenseits nicht verklammern und auch nicht produktiver. Nächstenliebe war nie eine gelebte Norm in Europa, ihr minder edles Geschwister Mitleid schon.“
In einer unruhigen von Fehden, Raubzügen und Kriegen fast stets bedrohten Gesellschaft war der Friede ein von allen erstrebtes Gut. Wie schwer man sich damit in der Praxis tat, und wie ausführlich die gelehrten, frommen wie weltlichen Theorien waren, die dieses Friedens habhaft werden wollten, das füllt bei Blickle viele Seiten. Denn „Frieden zu schaffen gehört zu den herausragenden Leistungen Europas.“ Allen Rückschlägen (von deren Beschreibung das Buch voll ist) zum Trotz. Dabei haben die Menschen stets versucht, die Durchsetzung des Friedens durch Gerichte zu erreichen; nicht rohe Gewalt, nicht das schiere Recht des Stärkeren sollte gelten, sondern geregelte „Verfahren“, die Einsprüche und Beschwerden zuließen und womöglich berücksichtigten. Auch hier war der Weg steinig und sehr lang, vom Recht, das auf Gewohnheit, altem Herkommen, gesundem Menschenverstand beruhte, hin zum kodifizierten Gesetz, das mindestens in der Tendenz „für alle gleich“ sein sollte. Hierbei spielte das adaptierte Römische Recht ebenso eine Rolle wie Thomas von Aquins Theorie des Widerstands gegen ein „ungerechtes Regiment.“
Aus diesem Streit ergibt sich auch die neue Form des Wirtschaftens, weg von der Bedarfsdeckung zu Kommerz und Luxus. Hatten die Handwerker in den Städten lange nach dem Prinzip der Auskömmlichkeit gewirtschaftet, es durch Zünfte zu sichern gesucht, so verzerrten die sich ändernden Verhältnisse diese eher bescheidene Vorstellung vom Wirtschaften. Gründe dafür gab es viele. Der Bevölkerungszuwachs, der trotz der regelmäßigen Seuchen immer mehr Menschen in eine prekäre Existenz trieb, spielte dabei ebenso eine Rolle wie die in der frühen Neuzeit beginnenden Reichtumsakkumulationen durch ein Profitdenken, das weit über dem Auskömmlichen liegende Gewinnmargen forderte. Schließlich gab es die Verschwendungssucht der Herren und die immer höher werdenden, durch Steuern eingetriebenen Summen für die Kriege, die diese Herren um Territorien – und manchmal auch nur um die Ehre – führten. Am Ende berief sich die neue „Wirtschaftsmentalität“, auf die Wohlfahrt des Individuums – man war in der Moderne angekommen. Aber vorher hatte es eben die Kosten senkende Leibeigenschaft gegeben, die in vielen Regionen Europas herrschte.
Genau dort setzt Blickle mit seiner Darstellung des Wegs zu einer von Gesetzen bestimmten zivilisierten Gesellschaft an. Hier, wie beruft er sich auf Max Weber und Norbert Elias (wie er überhaupt als guter Wissenschaftler nicht nur Zitate ausweist, sondern auch Gedankengänge, wenn sie denn schon von anderen vorgedacht worden waren, ihren Urhebern zuschreibt. Er schmückt sich nicht mit fremden Federn.) Was er für sich in Anspruch nimmt, ist die Strukturanalyse dessen, was das „alte Europa“ ausmacht. Er zeigt, wie langwierig, schwer und oft tödlich es war, „Ungehorsam zu lernen“ und wie erst auf dem Weg in die Rationalisierung bis dahin unlösbar erscheinende Probleme sich mindestens partiell bewältigen ließen – und welche Rolle die „Polizeyn“ dabei spielten, also jene verfassten, durch Gesetz bestätigten, durch Verwaltungshandeln wirksamen Hüter der Öffentlichen Ordnung. Heute heißt das „Gewaltmonopol des Staats“. Auch die durchaus zwiespältige Rolle der Polizeien wird dabei untersucht, sie schützten den Bürger – und unterdrückten ihn.
Gleichwohl der Weg des „Alten Europa“ in die Moderne war einer von Belang: „Frieden, Ordnung und Freiheit hat das Alte Europa als Erbschaft dem modernen Europa hinterlassen. Das sind im Vergleich mit außereuropäischen Kulturen einmalige Hervorbringungen.“
Der Professor aus dem Innerschweizer Kanton Bern ist ziemlich getrost: er hat eine Struktur umrissen, er weiß, welch hohes Gut, – „Kantönli-Geist“ hin und her – die gelebte Demokratie ist und welche Opfer Alteuropa gebracht hat, um sie in Jahrhunderten zu erreichen. Denn schließlich hält er sein Modell für nachahmbar. Und dafür nimmt er vieles in Kauf, was auf dem Weg in die Moderne verloren gegangen ist: etwa – um eine aktuelle Volte zu wagen – das Prinzip der Auskömmlichkeit, das der „gemeine Mann“ alleweil gegen seine Herren ins Feld führen konnte. Die sind heute nicht adlig, nicht königlich, nicht klerikal. Aber es gibt sie.
Literaturangaben:
BLICKLE, PETER: Das Alte Europa – Vom Hochmittelalter bis zur Moderne. C.H. Beck Verlag, München 2008. 320 S., 24,90 €.
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