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„Orpheus der Gosse“

Jean Genet wäre am 19.Dezember 100 Jahre alt geworden

© Die Berliner Literaturkritik, 19.12.10

Von Sabine Glaubitz

PARIS (BLK) - Der Schriftsteller Jean Genet ist längst zu einem Mythos geworden. Nicht nur, weil er wegen unzähliger Delikte im Gefängnis saß und sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. Der Dichter, der mit Skandalwerken und seiner schillernden Persönlichkeit zum Märtyrer, Wahnsinnigen und Kriminellen stilisiert wurde, bleibt auch heute noch einer der geheimnisvollsten Autoren Frankreichs, trotz zahlreicher Biografien, die seinem Geheimnis auf die Spur kommen wollten.

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Das Rätselraten um den Dramatiker von „Die Zofen“ und „Die Wände“ beginnt früh. Genet wurde am 19. Dezember 1910 in Paris geboren. Seine Mutter war Camille Gabrielle Genet (1888-1919), der Vater unbekannt. Als Genet sechs Monate alt war, gab ihn seine Mutter ab. Bald geriet er in das Räderwerk der Besserungsanstalten und Gefängnisse. Dass Genet jedoch einen Teil seines Elends überhöht haben soll, enthüllte der Historiker Ivan Jablonka in seinem 2004 veröffentlichen Werk „Les Vérités inavouables de Jean Genet“ (etwa: Die uneingestandenen Wahrheiten des Jean Genet).

Jablonka fand Texte und entdeckte, dass Genet seine frühe Kindheit nicht bei lieblosen Bauern verbrachte. Seine Adoptiveltern liebten den Zögling und die Lehrer unterstützten und förderten den Jungen, der durch seine Intelligenz auffiel. Warum Genet nach erfolgreichem Schulbesuch nach zwei Wochen seine Lehre als Drucker schmiss und danach alles auf ein Leben in Gefängnissen herauslaufen sollte, bleibt das Geheimnis des Dichters.

Genet begann hinter Gittern zu schreiben. So entstand 1942 der Gedichtband „Der zum Tode Verurteilte“ und der 1948 berühmt gewordene Roman „Notre-Dame-des-Fleurs“, der von Zuhältern, Päderasten und Lustmördern handelt. Genets Leben und sein größtenteils von 1944 bis 1969 entstandenes zynisch-poetisch-mystisches Werk, das die Helden der „schwierigen Welt der gesellschaftlichen Verdammten“ feiert, hatten lange als Skandal und Provokation gegolten. Angewidert und beeindruckt zugleich war der Dichter François Mauriac, der Genet als „Orpheus der Gosse“ bezeichnete.

Linksintellektuelle machten Genet zum Symbol für alle Unterdrückten und Ausgestoßenen. Neben Jean Cocteau fand Genet in Jean-Paul Sartre einen seiner größten Bewunderer. Sartre widmete ihm Anfang der 50er Jahre eine 600-seitige Biografie „Saint Genet, Komödiant und Märtyrer“, in der er ihn zum Rebellen verklärte. Dass Genet in dem Roman „Das Totenfest“ (1947) die Nazis verklärte, deren Uniformen in ihm erotische Fantasien hervorriefen, oder das Massaker von Oradour als „reine Poesie“ bezeichnete, ignorierten sie.

Seit Mitte der 60er Jahre schrieb Genet nur noch wenig. Stattdessen solidarisierte er sich mit verschiedenen Befreiungsbewegungen. Seiner These folgend, dass „Leben und Gewalt Synonyme sind“ engagierte er sich für die amerikanische Black- Panther-Bewegung, die deutschen Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ und die Palästinenser.

Heute ist der einst unbequeme Außenseiter zum Klassiker der Weltliteratur aufgerückt. Gestorben ist Genet, der an Kehlkopfkrebs litt, mit 75 Jahren jedoch wie ein Held seiner Romane: in einem armseligen Pariser Hotelzimmer.


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