„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, Kunst macht sichtbar“ lautet Paul Klees weltberühmter Tenor zur Aufgabe der Kunst. Nicht die bloße Abbildung ist gefragt. Vielmehr beinhaltet dieses Kunstverständnis den rechten, durchaus geschulten Blick auf Welt und Zeit. Wer Licht, Schnitt, Farbe und Pinsel und Kamera und Objektiv gelungen einzusetzen vermag, entpuppt sich demnach als der wahre Künstler. Ernsthaftigkeit und Tugend sind Attribute seiner Aura. Obwohl Klees Postulat zunächst für die Ewigkeit in Stein gemeiselt wirkt, muss es heute jedoch unumgänglich neu hinterfragt werden. Was gilt es noch in postmoderner Rezitierungswut und Dekonstruktion sichtbar zu machen? Wo ist noch Aufrichtigkeit zu suchen, wenn die tradierten Ordnungen allmählich mehr und mehr aus ihren Fugen geraten?
Die Antworten darauf sind so verloren wie die Kunst der letzten Jahrzehnte selbst. Indem man sich der Realität und Gegenständlichkeit verwährt, kann Wirklichkeit wohl kaum sichtbar werden.
Ein neuer Zeitgeist ist gefragt: Eine Wende hin zur kritischen Ästhetik, die sich von den asketischen Szenarien der Weltentsagung und Abstraktion befreit, könnte die Schwelle zu einer neuen Betrachtungsweise unserer Epoche markieren. Um den Geist der Gegenwart wieder ins geeignete Licht zu setzen, bedarf es einer angstlosen, neuen und mutigen Aufrichtigkeit, die zeigt, was existiert. Der Fotokünstler Thomas Struth hat diesen ästhetischen Entwurf zum Konzept seiner Kreation erhoben. In dem frisch erschienenen Band „Thomas Struth – Stadt und Straßenbilder. Architektur und öffentlicher Raum in der Fotografie der Gegenwart“, herausgegeben und hervorragend kommentiert von Anette Emde, offenbart sich der Zeitgeist gleichsam schreckenhaft wie ehrlich. Einsame, seelenlose Straßen prägen die Szenerie seiner Motive. Mit eiskaltem Minimalismus führt er den Betrachter an monotonen Reihenhaussiedlungen vorbei zu verwunschenen Gassen großstädtischer Anonymität. Es sind Orte des Vergessens, „die sich gegen die Entindividualisierung und Unwirtlichkeit rein funktionaler Architektur wendet“. Die Serie bestimmt die Epoche, in der der Mensch zum Objekt technischer Reproduzierbarkeit verkommt. Das Material steht über allem und scheut vor der Endlichkeit des Horizonts kaum noch zurück. Der Sequenz und Dynamik hält Struth eingefrorene Schauplätze entgegen und skizziert eine Topographie des Menschen im 21. Jahrhundert.
Auch die Wallstreet erweist sich heutzutage als Metapher einer neuen, schier grenzenlosen Weltordnung, welche Fotokünstler sachlich – unterkühlt, aber immer kritisch bewusst widerspiegelt. Indem Struth die menschenleere Wallstreet in Schwarz-Weiß fotografiert, demaskiert er den gescheiterten Traum vom Wohlstand für alle. Vorbei mit dem Eigenheim und Reichtum für jedermann. Der globale Boom im Augenblick der Finanzkrise erstarrt in Oberflächlichkeit. Dahinter: eine erschütternde Schimäre der modernen Kapital- und Materialgläubigkeit. Sprüche wie „Wer wagt, der gewinnt!“ und der lang gepriesene „american way of life“ zeigen den Traum eines verlorenen Paradieses, das Struth ohne Romantik in den blendenden Lichtfokus stellt. Und dabei schwingt weder Provokation nach Radikalisierung in den tristen Bildern mit. Einzig der ehrliche Anspruch, sichtbar zu machen, was schon längst fade Realität geworden ist, scheint sein Ziel zu definieren.
Dass Kunst die „Konstruktion von Wirklichkeit problematisiert“, gibt zumindest Anlass zur Hoffnung. Denn sie sollte immer der Pflicht verbunden sein, adäquater Spiegel des Menschenbildes sein zu wollen. Nicht zuletzt die Wabenbauten in Tokio vergegenwärtigen die beklemmende Nichtigkeit des Einzelnen in diktatorischen Systemen und demonstrieren die Notwendigkeit, die Stimme laut zu erheben. Postmoderne Ungewissheit könnte längst passé sein, wenn nur mehr Autoren, Künstler und Musiker so klar Bewusstsein schüfen, wie Struth es exemplarisch in seinem Kunstverständnis darlegt. Mut zur Kritik, ja, Mut zur moralischen Beharrlichkeit braucht diese Welt, die in bevorstehenden Krisen vor allem Menschlichkeit beweisen könnte.
Von Björn Hayer
Literaturangaben:
EMDE, ANETTE (Hg.): Thomas Struth: Stadt und Straßenbilder. Architektur und öffentlicher Raum in der Fotografie der Gegenwart. Jonas Verlag, Marburg 2008. 303 S., ca. 126 s/w- u. 60 Farbabb., 25 €.
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