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Ostwind - Westwind

Östliche Traditionen prallen auf westliches Denken

© Die Berliner Literaturkritik, 15.07.09

MÜNCHEN (BLK) – Im Juli ist bei dtv der Roman „Ostwind – Westwind“ von Pearl S. Buck erschienen.

Klappentext: Die junge, traditionell erzogene Chinesin Kuei-lan steht kurz vor der Hochzeit mit einem ihr unbekannten Bräutigam, der in den Vereinigten Staaten Medizin studiert hat. Zurück in seiner Heimat ist er bestrebt, in seiner Ehe die alten chinesischen Sitten und Gebräuche zu durchbrechen. Kuei-lan, verunsichert von dem Wunsch ihres Mannes, aus ihr eine selbstbewußte und gleichberechtigte Partnerin zu machen, schildert ihre Ängste vor dem Unbekannten. Doch bald sieht sie die Chance einer großen Liebe.

Pearl S. Buck, geboren 1892 in Hillsboro, West Virginia, wuchs als Tochter eines Missionars vor allem in China auf, studierte aber in den USA. Sie war von 1922 bis 1932 Professorin für Englische Literatur in Nanking. 1935 kehrte sie nach Amerika zurück. 1938 wurde sie für „ihre wahrheitsgetreuen epischen Schilderungen des chinesischen Bauernlebens und für ihre biographischen Meisterstücke „mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sie starb 1973 in Danby, Vermont.

Leseprobe:

©dtv©

Eine Chinesin spricht

Erster Teil

I

Dir kann ich diese Dinge sagen, meine Schwester. So wie zu dir könnte ich nicht einmal zu einer Frau meines Volkes sprechen, denn sie würde die fernen Länder nicht verstehen, in denen mein Gatte zwölf Jahre gelebt hat. Ich könnte mich auch keiner der Ausländerinnen anvertrauen, die weder mein Volk noch die Art des Lebens kennen, das wir seit den Zeiten des Kaiserreiches führen. Doch du – du hast alle deine Jahre unter uns verbracht. Du gehörst zwar jenen anderen Ländern an, in denen mein Gatte seine westlichen Bücher studiert hat, dennoch wirst du mich verstehen. Ich spreche die Wahrheit. Ich habe dich meine Schwester genannt. Ich werde dir alles sagen.


Du weißt, daß meine erhabenen Ahnen fünfhundert Jahre in dieser uralten Stadt des Reiches der Mitte gewohnt haben. Kein einziger unter ihnen war modern, kein einziger hatte das Verlangen nach Neuerungen. Sie alle lebten in Ruhe und Würde und im Vertrauen auf ihre Rechtschaffenheit. Und so unterwiesen mich meine Eltern in all den ehrwürdigen Überlieferungen. Ich hätte nie im Traume geahnt, daß ich den Wunsch haben könnte, anders zu sein. Ohne daß ich über die Sache nachdachte, schien es mir, alle Leute, die wirklich etwas gelten, müssten so sein wie ich. Wenn ich, nur unbestimmt, gleichsam von ferne, über die Mauern des Hofes her, von Frauen hörte, die nicht so waren wie ich, von Frauen, die frei kamen und gingen gleich Männern, schätzte ich sie gering. So, wie man mich gelehrt hatte, wandelte ich auf den erprobten Pfaden meiner Vorfahren. Niemals trat mir von außen etwas nahe. Ich hatte keinen Wunsch. Jetzt aber ist der Tag gekommen, da ich eifrig diese seltsamen Geschöpfe beobachte – die modernen Frauen – und danach strebe, so zu werden wie sie. Nicht meinetwegen, Schwester, sondern um meines Gatten willen.
Er findet mich nicht hübsch! Das kommt daher, daß er quer über die vier Meere in die fernen und äußeren Länder gereist ist und daß er in jenen Gegenden gelernt hat, neue Dinge und neue Art zu lieben.
Meine Mutter ist weise. Als ich im Alter von zehn Jahren aufhörte, Kind zu sein, und zur Jungfrau wurde, sagte sie mir diese Worte: „Die Frau soll vor Männern das Schweigen einer Blüte wahren und sich, sobald sie es nur unauffällig tun kann, zurückziehen.“
Und so erinnerte ich mich ihrer Worte, als ich vor meinem Gatten stand. Ich neigte den Kopf und legte beide Hände an die Brust. Ich antwortete ihm nicht, als er zu mir sprach. Aber ach, ich fürchte, er findet mein Schweigen langweilig!
Wenn ich nachdenke und etwas suche, das ihn fesseln könnte, ist mein Hirn plötzlich kahl wie ein Reisfeld nach der Ernte. Wenn ich allein bei meiner Stickarbeit sitze, denke ich an manch zartschönes Wort, das ich ihm sagen will. Ich werde ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Freilich nicht mit den dem gierigen Westen abgelauschten Worten, sondern in versteckten Andeutungen, gleich dieser:
„Mein Gebieter. Hast du heute den Beginn der Morgendämmerung bemerkt? Es war, als ob die düstere Erde emporspränge, die Sonne zu grüßen. Zuerst Dunkelheit. Dann ein mächtiger Lichtstrahl gleich erdröhnender Musik! Mein teurer Gebieter, ich bin deine düstere Erde, die der Sonne harrt!“
Oder, wenn er abends auf den Lotossee hinaussegelt:
„Wie – wenn das bleiche Wasser nie wieder fühlen sollte, wie der Mond es anzieht? Wie – wenn die Woge nie wieder von seinem Lichte zum Leben erweckt wird? Oh, mein Gebieter, achte auf dich und kehre wohlbehalten zu mir zurück, auf daß ich, ohne dich, nicht jener blassen, matten Flut gleiche!“
Doch wenn er in seiner sonderbaren ausländischen Kleidung nach Hause kommt, kann ich solche Dinge nicht aussprechen. Ist es denn möglich, daß ich einem Fremden vermählt bin? Seine Rede ist knapp und nachlässig, seine Blicke gleiten allzu hastig über mich, selbst wenn ich den pfirsichfarbenen Atlas trage und Perlen im frisch geordneten Haar.
Das ist mein Kummer. Ich bin erst einen Monat seine Gattin und bin nicht schön vor seinen Augen.

Drei Tage habe ich nun nachgegrübelt, meine Schwester. Ich muß List anwenden und ein Mittel suchen, die Blicke meines Gemahls auf mich zu lenken. Bin ich denn nicht die Enkelin vieler Generationen von Frauen, die Gnade gefunden haben vor den Augen ihrer Gebieter? Keiner von ihnen hat es an Schönheit gemangelt, viele hundert Jahre, mit einer einzigen Ausnahme: Kuei-mei, in der Ära Sung, denn sie war schon im Alter von drei Jahren pockennarbig. Dennoch steht geschrieben, daß selbst sie Augen hatte gleich schwarzen Edelsteinen und eine Stimme, die die Herzen der Männer aufwühlte wie der Sturm, der im Frühling durchs Bambusgehölz braust. Ihr Gatte liebte sie so sehr, daß er keine einzige seiner Konkubinen – und er hatte deren sechs, entsprechend seinem Rang und Reichtum – so sehr schätzte wie Kuei-mei.
Und meine Ahnin Yang Kuei-fei – jene, die auf ihrem Handgelenk einen weißen Vogel trug – hielt in ihren duftenden Händen das Kaiserreich selbst, denn der Herrscher, der Sohn des Himmels, war toll nach ihrer Schönheit. Und darum muß ich, bin ich auch die Geringste unter diesen Erhabenen, doch ihr Blut in meinem Blute haben, und ihr Mark ist das meine.
Ich habe mich in meinem Bronzespiegel gemustert. Und nicht um meinetwillen, sondern nur meines Gebieters wegen sage ich dir: Ich sah, daß es andere gibt, weniger hübsch als ich. Ich sah, daß mein Auge klar gezeichnet ist und das Weiße darin vom Schwarzen scharf getrennt. Ich sah, daß meine Ohren klein sind und zart an den Kopf anliegen, so daß die Ringe aus Jade und Gold nicht abstehen; ich sah, daß auch mein Mund klein ist und im Oval des Gesichtes die vorgeschriebene Linie zeigt. Ich wünschte nur, ich wäre nicht so blaß und meine Augenbrauen reichten noch einen Achtelzoll weiter zu den Schläfen. Ich helfe meiner Blässe durch einen Hauch von Rot nach, das ich mit den Handflächen auf den Wangen verreibe. Ein in Schwarz getauchter Pinsel vervollkommnet meine Brauen.
Und dann bin ich recht hübsch – und bereit für ihn. Sobald er aber den Blick auf mich richtet, sehe ich, daß er nichts bemerkt, weder Lippen noch Brauen. Seine Gedanken wandern über die Erde, über die See, überall, nur nicht dorthin, wo ich stehe und auf ihn warte!

Als der Wahrsager den Tag meiner Hochzeit festgesetzt hatte, als die roten Lacktruhen bis zum Rande gefüllt, als scharlachrote, geblümte Atlasdecken hoch auf den Tischen gehäuft waren und die Hochzeitskuchen aufgetürmt wie Pagoden, hieß mich meine Mutter in ihr Zimmer kommen. Ich wusch mir die Hände, glättete mein Haar aufs neue und trat in ihr Gemach. Sie hatte auf ihrem schwarzen geschnitzten Sessel Platz genommen und trank Tee. Ihre lange silbergefaßte Bambuspfeife lehnte neben ihr an der Wand. Ich trat gesenkten Hauptes vor sie und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. Dennoch fühlte ich ihren klaren Blick auf meinem Gesichte, auf meinem Körper, auf meinen Füßen. Seine scharfe Wärme drang durch die Stille des Zimmers bis in mein innerstes Herz. Endlich befahl sie mir, mich zu setzen. Sie spielte mit Wassermelonenkernen in einer Schüssel, die auf dem Tische neben ihr stand; ihr Gesicht war ruhig und trug den gewohnten Ausdruck undurchdringlicher Trauer. Meine Mutter war weise.
„Kuei-lan, meine Tochter“, sagte sie, „du stehst im Begriff, den Mann zu heiraten, dem wir dich verlobt haben, noch ehe du geboren warst. Dein Vater und der seine waren innig befreundet. Sie hatten einander zugeschworen, sich durch ihre Kinder zu verbinden. Damals war dein Verlobter sechs Jahre alt. Im selben Jahr noch wurdest du geboren. Und so bist du ihm bestimmt. Für dieses Ziel habe ich dich erzogen.
Während der siebzehn Jahre deines Lebens hatte ich diese Stunde deiner Heirat vor Augen. Bei allem, worin ich dich unterwies, nahm ich auf zwei Personen Bedacht: auf die Mutter deines Gatten und auf deinen Gatten. Um jener willen habe ich dich gelehrt, wie man einem Höheren den Tee bereitet und reicht; wie man vor dem Angesicht eines Höheren zu stehen hat, wie man schweigend zuhören muß, während ein Höherer spricht, mag er das nun in Lob tun oder in Tadel; in allen Dingen habe ich dich gelehrt, dich zu unterwerfen, wie eine Blume sich der Sonne und dem Regen gleichermaßen unterwirft.
Um deines Gatten willen habe ich dich gelehrt, wie du dich schmücken sollst, wie du zu ihm sprechen musst durch Blicke und Mienen, jedoch ohne Worte, wie du – aber diese Dinge wirst du verstehen, wenn die Stunde kommt und du mit ihm allein bleibst.
Und so bist du wohlerfahren in allen Pflichten einer vornehmen Frau. Auf die Zubereitung von Zuckerwerk und köstlichen Speisen verstehst du dich gut, so daß du imstande sein wirst, den Gaumen deines Mannes zu reizen und ihm deinen Wert zu zeigen. Höre niemals auf, ihn durch Erfindungsgabe im Bereiten verschiedener Speisen zu fesseln.
Die Sitten und Vorschriften adeligen Lebens – wie man vor Höhere tritt und wie man von ihnen geht, wie man zu Untergebenen spricht, wie man die Sänfte besteigt, wie man in Gegenwart anderer die Mutter des Gatten begrüßt, das alles ist dir bekannt. Du kennst das Betragen einer Hausfrau, die Feinheiten des Lächelns, die Kunst, das Haar mit Edelsteinen und Blumen zu schmücken, das Schminken der Lippen und Fingernägel, den Gebrauch von Wohlgerüchen, die Wirkung der Schuhe an den kleinen Füßen – ach, deine Füße, wieviel Tränen haben sie gekostet! Aber ich weiß von keiner deiner Altersgenossinnen, deren Füße so klein wären wie die deinen. Meine eigenen waren in deinem Alter kaum winziger. Ich hoffe nur, daß die Familie Li meine Botschaften beherzigt und die Füße ihrer Tochter, die die Verlobte deines Bruders, meines Sohnes, ist, ebenso fest gebunden hat. Doch bin ich besorgt, denn ich höre, das Mädchen sei unterrichtet in den vier Büchern, und Gelehrtheit bei Frauen ist nie von Schönheit begleitet. Ich muß die Mittelsperson neuerdings darauf aufmerksam machen.
Was aber dich betrifft, mein Kind, so kann ich nur sagen: Wenn meine Schwiegertochter dir gleichkommt, werde ich nicht allzusehr klagen. Du hast gelernt, jene alte Harfe zu spielen, deren Saiten von Generationen unserer Frauen zum Entzücken ihrer Gebieter angeschlagen wurden. Deine Finger sind gewandt und deine Nägel lang. Man hat dich sogar die berühmtesten Verse der alten Dichter gelehrt, du kannst sie zu deiner Harfe lieblich singen. Ich glaube, daß nicht einmal deine Schwiegermutter irgendeinen Mangel in meinem Werke finden wird. Es sei
denn, du könntest keinen Sohn gebären. Aber ich will in den Tempel gehen und der Göttin ein Geschenk bringen, sollte das erste Jahr vergehen, ohne daß du empfängst.“
Das Blut stieg mir ins Gesicht. Ich kann mich keiner Zeit erinnern, in der ich nicht von Geburt und Mutterschaft gewußt hätte. Der Wunsch nach Söhnen in einem Haushalt gleich dem unseren, wo mein Vater drei Konkubinen hatte, deren einziges Interesse darin bestand, Kinder zu empfangen und zu gebären, war zu alltäglich, um ein Geheimnis in sich zu schließen. Doch diese Möglichkeit, auf meine Person bezogen – aber meine Mutter bemerkte meine heißen Wangen gar nicht. Sie saß da, in Nachdenken versunken, und begann wieder mit den Melonenkernen zu spielen.
„Nur eines ist zu erwägen“, sagte sie schließlich. „Er war in fremden Ländern. Er hat sogar die ausländische Arzneikunst erlernt. Ich weiß nicht – aber genug! Die Zeit enthüllt alles. Du magst gehen.“

II

Ich kann mich nicht erinnern, Schwester, daß meine Mutter jemals so viele Worte gesprochen hätte. Eigentlich sprach sie selten, es sei denn, um zu tadeln oder zu befehlen. Und das mit Fug, denn keine andere in unseren Frauengemächern war ihr, der Ersten Dame, gleich, weder an Rang noch an angeborenen Fähigkeiten. Du hast
doch meine Mutter gesehen, Schwester? Sie ist sehr hager, wie du dich erinnern wirst, und ihr Gesicht scheint in seiner Blässe und Ruhe aus Elfenbein geschnitzt. Ich habe erzählen hören, daß sie in ihrer Jugend, ehe man sie vermählte, Augenbrauen von erlesener Schönheit und Lippen von der Zartheit der korallenfarbenen Quittenknospen besaß. Selbst jetzt hat ihr Gesicht, so fleischlos es ist, das klare Oval antiker Frauenbilder bewahrt. Und was ihre Augen betrifft, so sagte einmal die Vierte Dame – und sie ist gar klug:
„Die Augen der Ersten Dame sind traurige Edelsteine, schwarze Perlen, die sterben, weil sie zu viel vom Leid wissen.“
Ach, meine Mutter!
Keine kam ihr gleich in meiner Kindheit. Sie verstand gar vieles und bewegte sich mit einer angeborenen, ruhigen Würde, die die Konkubinen und deren Kinder stets in Furcht hielt. Doch das Gesinde liebte sie nicht, wenn es sie auch bewunderte. Ich hörte die Leute oft murren, weil sie nicht einmal die Abfälle in der Küche stehlen konnten, ohne daß meine Mutter es entdeckt hätte. Dennoch tadelte sie niemals laut, wie die Konkubinen es taten, wenn sie zornig waren. Wenn meine Mutter etwas sah, das ihr mißfiel, kamen nur wenige Worte über ihre Lippen, aber diese Worte waren geschärft von Verachtung und trafen den Schuldigen wie Eisnadeln das Fleisch.
Gegen meinen Bruder und mich war sie gütig, wenn auch förmlich und zurückhaltend, wie es sich ja für jemanden von ihrer Stellung in der Familie schickte. Von den sechs Kindern, die sie geboren hatte, waren ihr vier in zartem Alter durch die Grausamkeit der Götter entrissen worden, und darum schätzte sie ihren einzigen Sohn, meinen Bruder, ganz besonders. Denn solange sie meinem Vater einen lebenden Sohn geschenkt hatte, konnte er keinen gesetzlichen Grund finden, gegen sie Beschwerde zu erheben.
Und zudem war sie auf ihren Sohn insgeheim auch um seiner selbst willen sehr stolz.
Hast du meinen Bruder gesehen? Er gleicht meiner Mutter, ist hager von Gestalt, zartknochig, hoch und gerade gewachsen wie ein junges Bambusrohr. Als kleine Kinder weilten wir immer beisammen, und er war es, der mich zuerst lehrte, mit Pinsel und Tinte die Schriftzeichen in meiner Fibel nachzuziehen. Doch er war ein Knabe und ich bloß ein Mädchen, und als er neun Jahre alt wurde und ich sechs, nahm man ihn aus den Frauengemächern in jenen Trakt, in dem mein Vater wohnte. Fortan begegneten wir einander nur mehr selten, denn als mein Bruder älter wurde, betrachtete er es als Schande, Besuche bei den Frauen zu machen, und außerdem sah unsere Mutter es nicht sehr gerne.
Ich durfte natürlich niemals in die Höfe gehen, in denen die Männer wohnen. Bald nachdem man meinen Bruder von den Frauen getrennt hatte, stahl ich mich einmal
in der Dunkelheit des Abends zu dem runden Mondtor, das zu den Gemächern der Männer führt, lehnte mich an die Mauer gegenüber dem Tor und lugte in die Höfe, die dahinter lagen, denn ich hoffte, vielleicht meinen Bruder im Garten zu sehen. Aber ich sah nur Diener, die mit dampfenden Schüsseln hin und her eilten. Als sie die Tür zu den Hallen meines Vaters öffneten, drang schallendes Gelächter heraus, in das sich der dünne, hohe Gesang einer Frauenstimme mischte. Als die schweren Tore wieder geschlossen waren, lag nur mehr Stille über dem Garten.
Ich stand lange dort, lauschte dem Lachen der Zecher und fragte mich wehmütig, ob wohl mein Bruder mitten unter dieser Fröhlichkeit sein mochte. Da fühlte ich mich plötzlich scharf am Arme gezogen. Es war Wang Da Ma, die oberste Dienerin meiner Mutter, und sie rief:
„Das werde ich deiner Mutter sagen, wenn ich es noch einmal sehe! Wer hat je schon von einem so schamlosen Mädchen gehört, das hingeht und zu den Männern hinüberschaut!“
Ich wagte bloß eine geflüsterte Entschuldigung:
„Ich habe nur meinen Bruder gesucht.“
Doch sie antwortete fest:
„Auch dein Bruder ist jetzt ein Mann.“
Und so sah ich ihn nur selten wieder.
Ich hörte aber, daß er das Studium liebte und früh belesen war in den vier Büchern und den fünf Klassikern, so daß mein Vater endlich seinen Bitten nachgab und ihm gestattete, nach Peking in eine ausländische Schule zu gehen. Zur Zeit meiner Vermählung studierte er in der Pekinger Nationalen Universität, und in den Briefen, die er nach Hause schrieb, bat er unausgesetzt um die Erlaubnis, nach Amerika zu reisen. Zuerst wollten meine Eltern davon nichts hören, und meine Mutter war niemals damit einverstanden. Aber mein Vater liebte keine Störung, und ich konnte voraussehen, daß mein Bruder durch unablässiges Bitten schließlich seinen Willen durchsetzen werde. 

In den beiden Ferien, die er zu Hause verbrachte, ehe ich fortzog, sprach er viel von einem Buch, das er „Wissenschaft“ nannte. Meine Mutter fühlte, daß so etwas Unglück bringen müsse, denn sie konnte keine Möglichkeit sehen, dieses westlicheWissen im Leben eines chinesischen Edelmannes anzuwenden. Bei seinem letzten Besuch zu Hause trug er die Kleidung eines Ausländers, was meiner Mutter überaus mißfiel. Als er ins Zimmer trat, düster und fremdartig, stieß meine Mutter mit ihrem Stock auf den Boden und rief:
„Was bedeutet das?Was bedeutet das?Wage nicht, dich vor mir in so alberner Tracht zu zeigen!“
Daher mußte er seine gewohnten Kleider anlegen, obwohl er sehr zornig war und zwei Tage lang zögerte, es zu tun, bis mein Vater es ihm lachend befahl. Meine Mutter hatte recht. In chinesischem Gewande sah mein Bruder vornehm aus und glich einem Gelehrten. Wenn er in dem ausländischen Anzug seine Beine zur Schau stellte, bot er ein Bild, wie man es in unserer Familie noch nie gesehen oder geahnt hatte.
Doch selbst bei diesen zwei Besuchen sprach er nur selten mit mir. Ich wußte nichts von den Büchern, die er liebte, denn ich hatte bei den vielen Dingen, die notwendig waren, mich auf die Ehe vorzubereiten, keine Zeit mehr, die Klassiker weiterhin zu studieren.
Über seine Heirat redeten wir natürlich nie. Ein solches Gespräch hätte sich zwischen einem jungen Mann und einer Frau nicht geschickt. Ich wußte nur durch lauschende Mägde, daß er sich widersetzte und daß er nicht heiraten wollte, obwohl meine Mutter schon dreimal versucht hatte, den Hochzeitstag zu bestimmen. Jedesmal überredete er meinen Vater, die Sache aufzuschieben, bis er noch weitere Studien gemacht hätte. Und ich wusste natürlich, daß er mit der Tochter des Hauses Li verlobt war, einer Familie von Reichtum und Rang, hochangesehen in der Stadt. Vor drei Generationen hatten das Oberhaupt des Hauses Li und das Oberhaupt unseres Hauses in benachbarten Gauen derselben Provinz als Statthalter geherrscht.
Natürlich hatten wir seine Verlobte nicht gesehen. Die Sache war durch meinen Vater abgeschlossen worden, noch ehe mein Bruder ein Jahr alt war. Darum hätte es sich für unsere Familien nicht geschickt, vor der Hochzeit meines Bruders Verkehr zu pflegen. Eigentlich wurde über die Braut überhaupt nie gesprochen, und nur ein einziges Mal hörte ich, wie Wang Da Ma mit den anderen Mägden schwatzte: „Schade, daß die Tochter Lis um drei Jahre älter ist als unser Gebieter. Ein Gatte sollte auch an Jahren der Frau überlegen sein. Doch die Familie ist alt und reich und …“
Dann bemerkte sie mich und machte sich schweigend wieder an ihre Arbeit.
Ich konnte nicht verstehen, warum mein Bruder sich weigerte zu heiraten. Als die erste Konkubine davon hörte, rief sie lachend:
„Gewiß hat er in Peking ein schönes Mandschumädchen gefunden!“
Ich aber glaubte nicht, daß mein Bruder jemals etwas anderes lieben könnte als seine Bücher.
Und so wuchs ich allein auf in den Höfen der Frauen.

©dtv©

 

Literaturangabe:

BUCK, PEARL S.: Ostwind – Westwind. Aus dem Englischen von Annie Polzer und Richard Hoffmann. dtv, München 2009. 192 S., 9,90 €.

Weblink:

dtv


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