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Paris im Jahre 1818

Ein historischer Roman

© Die Berliner Literaturkritik, 16.01.12

BERLIN (BLK) – Im Insel Verlag ist im April 2011 der historische Roman „Die Geheimnisse des schwarzen Turms“ des amerikanischen Autors Louis Bayard erschienen. Silvia Morawetz hat ihn ins Deutsche übersetzt.

Klappentext: „Vidocq!“ Der Name bringt die Pariser Unterwelt des Jahres 1818 zum Erzittern. Denn der Chef der Geheimpolizei hat die berüchtigsten Verbrecher des Landes hinter Schloß und Riegel gebracht. Nun ist er einem Fall auf der Spur, bei dem das Schicksal ganz Frankreichs auf dem Spiel steht. Paris 1818: Die Rufe nach Revolution sind längst verklungen, Napoleon endgültig vertrieben und die Bourbonen wieder an der Macht. Doch die neue, noch fragile Ordnung wird bedroht: Louis-Charles, Sohn Marie Antoinettes und Ludwigs XVI., scheint wieder unter den Lebenden zu weilen. Dabei gilt der einstige Kronprinz, der die letzten Monate seines jungen Lebens in einem schwarzen Turm gefangengehalten wurde, schon seit Jahren als tot. François Vidocq, Chef der Geheimpolizei und Schrecken der Pariser Unterwelt, folgt den Gerüchten durch die dunklen Gassen des Quartier Latin und die verwahrlosten Salons des alten Adels. Dabei trifft er auf den verwirrten Charles Rappskeller. Und tatsächlich spricht einiges dafür, dass der junge Mann der verschollene Königssohn ist. Während Vidocq versucht herauszufinden, was damals im schwarzen Turm wirklich geschehen ist, setzt ein gewisser „Monsieur” alles daran, Charles Rappskeller wieder verschwinden zu lassen.

Louis Bayard studierte in Princeton bei Joyce Caro Oates Englische Literatur und an der Northwestern University Journalismus. Später war er als Kommunikationsdirektor und als Redenschreiber tätig und arbeitete auch als Sekretär für einen Kongressabgeordneten. Heute lebt er als freier Autor in Washington, D.C und schreibt u.a. für die „The New York Times“ und die „Washington Post“. Außerdem hat er mehrere historische Romane verfasst.

Leseprobe:

 ©Insel©

Teil 1

Saint-CLoud

                                                                                                                   13. Thermidor 11

1tes Zusammentreffen mit Gefangenem: kurz nach 1 Uhr nachts. Gefangener allein in Zelle. Hat Abendessen nicht angerührt. Genauso Frühstück.

Gestank extrem, bereits durchs Gitter riechbar. Muss mit Barras über Haftbedingungen sprechen. Exkrementhaufen überall. Urin, Schweiß, Schimmel, verfaulte Haut. Übermaß an Ratten. Maden, Kakerlaken, Läuse.

Gefangenen auf Pritsche vorgefunden, ungef. so groß wie eine Wiege. (Gefangener will aus unbekanntem Grund nicht im Bett schlafen.) Knöchel steht in unnatürlichem Winkel hervor. Knie & Handgelenke extrem geschwollen, blau & gelb.

Gefangener hat nur Fetzen schmutziger Kleidung am Leib, zerlumpte Hose. Kleidet sich schon lange nicht mehr an oder aus. Rippen unter der Haut deutlich erkennbar. Arme & Beine v. oben b. unten m. Wunden überzogen; eiternd. Körper v. Kopf b. Fuß m. Ungeziefer bedeckt. Wanzen & Läuse überall in Laken & Decke.

Gefangener fuhr beim Öffnen der Tür zusammen. Leichte Drehung des Kopfes in unsere Richtung, sonst keine Regung. Öffnete Augen einen Spaltbreit, als ich Kerze vors Gesicht hielt, schloss sie sofort wieder. Licht äußerst schmerzhaft. Gefangener dürfte mindestens 6 Monate lang kein Licht gesehen haben, muss womöglich als funktionell erblindet betrachtet werden.

Zunächst keine Antwort des Gefangenen, als ich ihm einen guten Morgen wünschte. Reagierte nicht auf Fragen. Schwache Ausatmung durch (schaumbedeckte) Lippen. Große Spinne, halsaufwärts kriechend. Entdeckte Ratte, die am Haar des Gefangenen fraß; m. Mühe entfernt. Dies veranlasste Gefangenen zu ersten Worten, einem Dank an mich.

Bat Gefangenen aufzustehen. Gefangener lehnte ab. Nach wiederholtem Bitten versuchte er es, entbehrte aber der Kraft. Konnte gestützt 2 Schritte gehen – allem Anschein nach äußerst schmerzhaft. Gefangner sackte sofort zusammen, als ich meinen Arm wegnahm. (Wärter, der während gesamter Befragung anwesend war, lehnte ab, mir beim Aufrichten des Gefangenen zu helfen.)

Nachdem ich Gefangenen wieder auf seine Pritsche gehoben hatte, versprach ich, am nächsten Morgen wiederzukommen, um Behandlung zu beginnen. Bei diesen Worten bat Gefangener mich kaum hörbar, mir keine Umstände zu machen. Äußerte, es sei sein innigster Wunsch zu sterben. So schnell, wie Gott es ihm gewähre.

Muss mit Genrl. Barras re. Zellensäuberung sprechen. Gefangener muss auch mehr Licht haben. Behandlung des Knies von vordringlicher Wichtigkeit. Baden täte Gefangenem wohl, Bewegung – Kontakt m. Familie, Freunden, irgendwem.

Muss auch

Was haben wir getan!

 

Kapitel 1

Der Bettler an der Ecke

Ich habe ein gewisses Alter erreicht – bin alt genug, um alle Torheiten begangen zu haben – und stelle zu meiner eigenen Überraschung fest, dass ich nur einen Rat geben kann, diesen nämlich: sieh zu, dass dein Name nicht in der Hosentasche eines Toten gefunden wird.

 

Apropos Name. meiner ist Hector Carpentier. Neuerdings Professor Carpentier von der École de Médicine. mein Spezialgebiet ist die Venerologie, ein zuverlässiger Quell der Erheiterung für meine Studenten. „Kommt mit“, sagen sie. „Carpentier erzählt uns heute alles über das zweite Stadium der Syphilis. ihr pimpert nie wieder.“

  Ich wohne in der Rue du Helder, zusammen mit einer orangen Tigerkatze namens Baptiste. meine Eltern sind tot, ich habe keine Geschwister, und mit Kindern bin ich bisher nicht gesegnet. Kurzum, ich bin alles an Familie, was ich besitze, und in Momenten der ruhe wandern meine Gedanken manchmal zu den streng genommen mir nicht verwandten Menschen, die mir einmal – eine Zeitlang zumindest – das gewesen sind, was Familie ausmacht, im Guten wie im schlechten. würde man mich peinlich genau befragen, müsste ich zum Beispiel zugeben, dass ich mich an meine Kommilitonen aus dem Medizinstudium besser erinnere als an meinen eigenen Vater. Mutter wiederum … ist mir nach den vielen Jahren zwar immer noch ziemlich präsent, in mancher Hinsicht aber nicht so real wie Charles. der vielleicht nicht ganz und gar real war, aber zeitweise für mich meine Familie.

  Jedes mal, wenn ich eine Penta sehe, muss ich an ihn denken. ein flüchtiger Blick genügt, und ich stehe wieder im Jardin du Luxembourg, irgendwann im Mai. schaue einem hübschen Mädchen nach (wie es den Schirm hält, ja, und die Handschuhe, dieses satte Buttergelb), und Charles grübelt über Blumen. immerzu grübelt er über Blumen. Jetzt pflückt er sogar eine und hält sie mir hin: eine Penta, der Stern von Ägypten.

  Fünfarmig, daher der Name Penta. zarter als ein Wispern. stellen sie sich einen Seestern vor, vom Grund des Ozeans heraufgeholt und … ach, ich finde nicht die richtigen Worte dafür. so bemerkenswert ist die Penta eigentlich ja nicht, aber wie sie da in seiner hohlen Hand liegt, ist sie mir doch nicht einerlei, so wenig wie alles andere: der schottische Terrier, der auf einer Bank schnarcht, der Schwan, der sich im Springbrunnen die Rumpffedern putzt, die dunkle, bemooste Leonidas-Statue. ich bin das maß dieser Dinge, sie sind meines, und wir alle – sind uns vermutlich genug.

  Natürlich, unsere Lage ist unverändert. wir sind immer noch Gezeichnete, er und ich. in diesem Augenblick aber kann ich mir ein Gran Gnade vorstellen – die Möglichkeit, meine ich, dass wir zu etwas anderem bestimmt sind. Und das alles wegen dieser albernen Blume, über die ich an jedem anderen Tag hinweggeschritten wäre wie über einen Teppich.

 ©Insel©

Literaturangabe:

BAYARD, LOUIS: Die Geheimnisse des schwarzen Turms. Ein Roman aus dem Paris des Jahres 1818. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Insel Verlag, Berlin 2011. 414 S., 16,90 €.

Weblink:

Suhrkamp


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