Von Björn Hayer
Nie war der Begriff der Selbstverwirklichung wohl so in Mode wie heutzutage. Das Diktum „Verwirkliche dich selbst“ wird dabei sogar zum Ausdruck eines universellen Lebensgefühls, dessen Ursprünglichkeit auf den Beginn der Moderne verweist. Obwohl die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen Weltbild oder einer absoluten Wahrheit sicherlich ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis darstellt, ist der Glaube an einen metaphysischen Überbau doch längst zerbrochen. Nicht zuletzt die fehlende Bindekraft großer Institutionen wie Kirche und Parteien geben zu erkennen, dass die Gesellschaft indessen schon den Weg zur vollkommenen Individualisierung beschreitet. Wohingegen die Außenwelt ferner zum Ort permanenter Spezialisierung gerät, zieht sich der moderne Mensch auf die Kreation seiner eigenen kleinen Religion zurück. Nichts gebührt mehr der Gruppe. Das Individuum wird zum unantastbaren Maß, zur schier unbegrenzten Schöpfungskraft.
Wenn jedoch das Sozialgefüge nicht mehr als eine Anhäufung von Einzelnen ausmacht, muss die Frage erlaubt sein, welche Werte denn zukünftig die Gemeinschaft organisieren sollen. Dass die Philosophie hierzu als Ideengeber maßgeblich beitragen kann, ist nicht weit gefehlt. Der Philosophieprofessor Hans –Martin Schönherr-Mann entwickelt in seinem neusten Forschungsaufsatz „Der Übermensch als Lebenskünstlerin – Nietzsche, Foucault und die Ethik“ ein der Gegenwart durchaus adäquates Ethikfundament.
Nietzsche lebt. Insbesondere seine umtriebige Kunstfigur Zarathustra gilt seiner Einsamkeit wegen als Vorläufer moderner Lebenswege. Denn was der gemeinschaftsliebende Traditionalist heute als den Zerfall der gesellschaftlichen Einheit rügt, steht für Schönherr-Mann im Bilde eines erneuten Befreiungsgeistes. Demnach geht „der Prozess der Emanzipation nicht mehr als Fortschritt allgemeiner, übergreifender Systeme und Kategorien aus, sondern als Verantwortung des Einzelnen“. Die Zeichen der Zeit: Individualethik statt tragender Massenideologie.
Während der Autor in argumentativer Dichte die Entwicklung zum Verlust gesamtgesellschaftlicher Werte antritt, eröffnet er einen fast bildhaften, sprachlich wunderschön geschliffenen Kosmos verzweigtester Zusammenhänge. Was bisher als vereinzelt galt, fügt der Autor in mosaikartiger Kompositionsfreude zusammen. Schönherr-Mann strukturiert Historie, ohne in Geschichtenerzählerei zu verfallen. Und zwischen alledem erstrahlt Nietzsches Philosophie der Umwertung in neuem Glanze. Spätestens seit Sartre ist das Individuum so frei, so ins Dasein hineingeworfen, dass die Suche nach Orientierung zum Hauptanliegen moderner Biographien erwachsen ist. Der Autor wagt dabei mutig, all die existenzialistische Haltung zu überwinden: Es geht nicht um die Abschaffung der Werte, sondern um deren Macht. „Auch die Einzelne lehnt nicht nur Normen, sondern das sich dadurch gestaltende Leben“ ab.
Nicht Indoktrination, vielmehr die Neuschöpfung von Werten ist als Existenzentwurf maßgeblich. Und welches Modell wäre dazu besser geeignet als das des Übermenschen, der dem permanenten Bestreben folgt, über das eigene Selbst hinauszuwachsen. Indem der Entwurf des Übermenschen dem Fragmentarischen der Moderne gegenübergestellt wird, skizziert der Autor fast schon eine ästhetische Konzeption von Leben. Existieren versteht sich nunmehr als Kreieren. Das Individuum als nahezu göttlicher Künstler. Philosophie kann die Zeit wohl kaum umkehren; aber unterdessen den Versuch unternehmen, sie klarer zu verstehen.
Der „Übermensch als Lebenskünstlerin“ ist daher weniger Zeitkritik. Einzig liegt in jener Idee die Neuentdeckung Nietzsches als Wegbereiter einer zeitgemäßen Individualethik. Allerdings jenseits von Dogmatik. Schönherr-Manns Aufsatz kann als geistreicher Denkanstoß gewertet werden. Darin den großen Erklärungsansatz oder gar eine einheitliche Ethik zu sehen, wäre übertrieben. So verfällt der Autor doch nur allzu oft einer spröden Vagheit. Das Konkrete verliert sich zu leicht in der schier grenzelosen Freiheit. Wie gilt es nunmehr, das rechte Leben zu führen? Was gibt mir Halt? sind Fragen, die bei all der sprachlichen Deutungsmacht sowie stilsicheren Präzision bis zuletzt unbeantwortet bleiben. Nietzsches Vermächtnis zu modernisieren ist schön und vor allem klug; aber von einer Weiterentwicklung desselben fehlt hier jede Spur.
Literaturangabe:
SCHÖNHERR-MANN, HANS-MARTIN: Der Übermensch als Lebenskünstlerin. Nietzsche, Foucault und die Ethik. Matthes & Seitz, Berlin 2009. 163 S., 12,80 €.
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