Werbung

Werbung

Werbung

„Place de l`Etoile“

Über Juden im besetzten Frankreich

© Die Berliner Literaturkritik, 03.10.10

München (BLK) – Im März 2010 ist Patrick Modianos Roman „Place de l`Etoile“ im Hanser Verlag erschienen.

Klappentext: Ein junger Mann, Raphael Schlemilovitch, in Paris zur Zeit des Nationalsozialismus. In seiner fingierten Autobiografie ziehen kaleidoskopartig die Lebensentwürfe der Juden im besetzten Frankreich vorüber: Mal ist er „Kollaborationsjude“ und Liebhaber von Eva Braun, mal „Feld-und-Flur-Jude“ in der tiefsten Provinz, bald emigriert er mit falschen Papieren und wird der Judenverfolgung dennoch nicht entgehen. Bis er bei Doktor Freud auf der Couch liegt, der dem halluzinierenden Held eine „jüdische Neurose“ attestiert. Modianos brillantes Erstlingswerk ist einer der aufregendsten Romane über das von Deutschen besetzte Paris und ein stilistisches Meisterstück zugleich.

Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichungen, darunter den großen Romanpreis der Académie francaise und den Prix Goncourt.

 

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

Mein Vater trug einen nilblauen Alpakaanzug, ein Hemd mit grünen Streifen, eine rote Krawatte und Schuhe aus Persianerpelz. Ich hatte ihn soeben im osmanischen Salon des Hôtel Continental kennengelernt. Nachdem ich verschiedene Papiere unterzeichnet hatte, durch die er über einen Teil meines Vermögens verfügen würde, sagte ich: „Mit einem Wort, Ihre New Yorker Geschäfte standen vor dem Ruin? Wie kann man nur Generaldirektor der Kaleidoscope Ltd. sein? Sie hätten doch merken müssen, dass der Markt für Kaleidoskope von Tag zu Tag kleiner wird! Kinder bevorzugen Trägerraketen, Elektromagnetismus, Arithmetik! Der Traum verkauft sich nicht mehr, mein Alter. Und dann, ich will offen mit Ihnen reden: Sie sind Jude, folglich haben Sie kein Gespür für Handel oder Geschäfte. Dieses Privileg muss man den Franzosen überlassen. Wenn Sie lesen könnten, würde ich Ihnen den schönen Vergleich zeigen, den ich zwischen Peugeot und Citroën angestellt habe: auf der einen Seite der Provinzler aus Montbéliard, ein Raffke, diskret und erfolgreich; auf der anderen Seite André Citroën, ein tragischer jüdischer Abenteurer, der in Spielsälen hohe Einsätze wagt. Schauen Sie, Sie haben nicht das Zeug zum Industriekapitän. Sie sind ein Seiltänzer, das ist alles! Es hat keinen Sinn, Komödie zu spielen! Hektisch mit Madagaskar, Liechtenstein, Feuerland zu telephonieren! Ihre Kaleidoskopbestände werden Sie nie los.«

Mein Vater wollte Paris wiedersehen, wo er seine Jugend verbracht hatte. Wir gingen ein paar Gin-Fizz trinken, ins Fouquet’s, ins Relais Plaza, in die Bar des Meurice, des Saint-James et d’Albany, des Élysée-Park, des George-V, des Lancaster. Da war er zuhause. Während er eine Partagas-Zigarre rauchte, dachte ich an die Touraine und die Forêt de Brocéliande. Wohin sollte ich auswandern? Tours? Nevers? Poitiers? Aurillac? Pézenas? La Souterraine? Die französische Provinz kannte ich nur durch den Guide Michelin und durch einige Autoren wie François Mauriac. Ein Text dieses Mannes aus den Landes hatte mich besonders ergriffen: Bordeaux ou l’adolescence. Ich erinnerte mich an Mauriacs Überraschung, als ich ihm voller Inbrunst seine wundervolle Prosa vortrug: „Diese Stadt, in der wir geboren sind, in der wir Kind waren, Jüngling, sie ist die einzige, über die wir uns ein Urteil versagen sollten. Sie verschmilzt mit uns, sie ist eins mit uns, wir tragen sie in uns. Die Geschichte Bordeaux’ ist die Geschichte meines Körpers und meiner Seele.“ Hatte mein alter Freund verstanden, dass ich ihn um seine Jugend beneidete, um das Institut Sainte-Marie, die Place des Quinconces, den Duft von warmem Heidekraut, heißem Sand und Harz? Von welcher Jugend konnte ich erzählen, ich, Raphaël Schlemilovitch, außer von der Jugend eines armseligen, heimatlosen kleinen Juden? Ich werde weder Gérard de Nerval sein noch François Mauriac und nicht einmal Marcel Proust. Kein Valois, um meine Seele zu wärmen, auch keine Guyenne und kein Combray. Keine Tante Léonie. Verdammt zum Fouquet’s, zum Relais Plaza, zum Élysée-Park, wo ich grauenhafte angelsächsische Drinks schlucke, in Gesellschaft eines dicken New Yorker Juden, der mein Vater ist. Der Alkohol ermuntert ihn zu Vertraulichkeiten wie Maurice Sachs am Tag unserer ersten Begegnung. Ihre Schicksale gleichen sich, bis auf einen kleinen Unterschied: Sachs las Saint-Simon, mein Vater Maurice Dekobra. Geboren in Caracas, in einer Familie sephardischer Juden, verließ er überstürzt Amerika, um den Polizisten des Diktators der Galapagosinseln zu entkommen, dessen Tochter er verführt hatte. In Frankreich wurde er Sekretär von Stavisky. In jener Zeit machte er was her: ein bisschen zwischen Valentino und Novaro, mit einem Schuss Douglas Fairbanks, das reichte, um die kleinen Arierinnen zu verwirren. Zehn Jahre später hing sein Photo in der antijüdischen Ausstellung im Palais Berlitz, versehen mit folgender Bildlegende: „Heimtückischer Jude. Er könnte als Südamerikanerdurchgehen.“

©Carl Hanser Verlag©

Literaturangabe:

MODIANO, PATRICK: Place de l`Etoile . Hanser Verlag, München 2010. 192 S., 17,90 €.

 

Weblink: Hanser Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: