Von Johannes von der Gathen
Ein abgelegenes Dorf in der Eifel, eine Gastwirtschaft am Fluss, die schon bessere Zeiten gesehen hat, und eine Familie, die auf fast magische Art und Weise mit diesem vom Wasser durchzogenen Ort verbunden ist: Der 1951 geborene Erzähler und Lyriker Norbert Scheuer entführt uns mit seinem neuen Roman, der gerade eben für den Deutschen Buchpreis 2009 nominiert wurde, in eine abseitige, fast verwunschene (Unterwasser)-Welt.
„Überm Rauschen“ ist keine linear erzählte Geschichte mit geradlinigem Plot, vielmehr gleicht Scheuers Roman einem Strudel, in den der Leser nach einiger Zeit unweigerlich hineingezogen wird. Gegenwart und Vergangenheit fließen ineinander, Figuren tauchen auf und verschwinden wieder im Strom der poetischen Sprache: „Ich stehe angelnd im Fluss, rieche wie früher in der Kindheit das Wasser, Dinge, die der Fluss mit sich trägt, als wäre er eine alte Jacke, deren Taschen vollgestopft sind.“
Der Ich-Erzähler Leo kehrt mit Mitte vierzig zurück in den Gasthof seiner Kindheit. Der Vater ist längst tot, die Mutter lebt im Heim, und Leos zwei Jahre älterer Bruder Hermann sitzt seit Tagen in seinem Zimmer und will mit niemandem sprechen. Dabei war Hermann früher ein begabter Junge und wie sein Vater ein passionierter, fast fanatischer Angler, der mit allen Tricks und kunstvoll gebastelten Ködern auf seine Beutezüge ging. Aber Hermann entwickelte sich im bigotten Dorf zum Außenseiter, brach die Schule ab, fuhr zur See und landete schließlich wieder in der elterlichen Gastwirtschaft. Sein einziges Interesse gilt jetzt der Jagd nach dem „alten Fisch Ichthys“, einem phantomhaften Wesen, „größer als ein ausgewachsener Mann, mit perlmutterhaften Schuppen“, der seit Urzeiten im Fluss leben soll.
Das klingt stark nach skurrilem Anglerlatein, aber Norbert Scheuer gleitet nicht in unverbindlich fantastische Untiefen ab, sondern macht seinen kunstvoll komponierten Roman immer wieder an der Wirklichkeit fest. Zu jedem Kapitel hat Scheuers Sohn Erasmus eine Fischzeichnung beigesteuert, und in kurzen Bildbeschreibungen lernt der Leser etwas über die Eigenarten von Hecht, Schleie, Regenbogenforelle, Barbe, Groppe oder Äsche.
Die Fische haben ihr Schicksal, aber es geht ja um die Menschen. Sehr eindringlich und genau erzählt Scheuer, wie schon in seinem Erzählband „Kall, Eifel“ (2006), von familiärer Enge, Armut, Ignoranz und Liebessehnsucht innerhalb einer rückständigen dörflichen Gemeinschaft und den Versuchen, aus diesem kargen Leben auszubrechen. Die Kellnerin Alma, die fast ihr ganzes Leben im Gasthof am Fluss zugebracht hat, träumte in ihrer Jugend davon, als Hotelangestellte nach Paris zu gehen. Zu dieser Zeit waren Hermann und Leo in sie verliebt - aber Alma blieb in der Eifel stecken und die Liebe rauschte vorbei wie eine Gewitterfront.
Literaturangabe:
SCHEUER, NORBERT: Überm Rauschen. C.H. Beck Verlag, München 2009. 167 S., 17,90 €.
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