Von Tobias Roth
Im Anschluss an die 2004 erschienenen „Gesammelten Gedichte“ ist nun eine weitere komplette Sammlung der Lyrik Friederike Mayröckers erschienen. Der Umfang ist gewaltig, geradezu pompös: füllten die Jahre 1939 bis 2003 gut 850 Seiten, erstreckt sich der zweite Zeitraum über fast 350 Seiten, bevor er Ende März 2009 endet. Diese Fülle ist einerseits beeindruckend, bedroht aber andererseits das einzelne Gedicht. Ausmaß und sorgsame Gestaltung des Ganzen lassen dieses Buch zu einem Museum für Gegenwart werden: Ausfluss der seltsamen Zeitwahrnehmung unserer Tage, die das Erleben des Moments, das Gedicht des Augenblicks offenbar unter das Vorzeichen der Nostalgie rückt. Wohin soll da das Konkrete?
Denn der Sammelband mit dem Titel „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ hat nicht nur mit Jahreszahlen zu tun, er dokumentiert die Gedichte tagesgenau. Das legt den steten Rhythmus der Schrift offen und die Germanistik der Zukunft dankt. Aber die strikte Chronologie duldet keine andere Ordnung neben sich: ungegliedert geht der Strom der Zeit von Gedicht zu Gedicht. Der Leser verliert sich in den Gängen des Museums. Orientierung im verzweigten Wurzelwerk der immer gleichen Bilder geben nur die halbdurchsichtigen, häufig auftauchenden Wiedergänger, etwa Friedrich Hölderlin oder Jacques Derrida, seltener (aber einmal durch eine sehr schöne Anspielung im Gedicht „fast Vollmond schon“) Franz Schubert, anbei die Flut der Widmungsträger.
Verstreut, von 18 weiteren Exponaten unterbrochen, findet der beflissene Museumsgänger die 40 Scardanelli-Gedichte wieder, als würden sie untergehen. Diese Dekomposition des Gedichtbandes zeigt, wie ernst hier die schiere Chronologie des Archivs genommen wird. Das Museum versammelt Gegenstände und Stimmungen der Welt, das Glas der Vitrinen ist bei Mayröcker natürlich aus Tränen: „verhangen die Seele die Träne gehiszt das Flieszen der Tränen / Kaskade der Tränen die Fluten.“ Es gibt von allem reichlich, und „reichlich“ ist kein schönes Wort.
Literaturangabe:
MAYRÖCKER, FRIEDERIKE: dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif. Gedichte 2004-2009. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 342 S., 22,80 €.
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