Ein Banküberfall, der sich wenig später als spurlose Entführung entpuppt – und zwar der Geiselnehmer – und viel später als abgefeimter Online-Finanzcoup. Und nichts anderes war als eine minuziös geplante Ablenkung.
Ehemalige Stasi-Agenten der DDR, die heute „Sicherheitsberater“ sind. Andere Geheimdienstagenten, ebenfalls aus Tagen des Kalten Krieges, allerdings ausgebildet im Foltern.
Der Ausbruch des zweiten Irak-Kriegs der Bush-Administration.
Das Ersetzen der fossilen und materiell begrenzten Brennstoffe durch Wasserstoff.
Eine Beratertätigkeit für Jan-Olov Hultin, pensionierter Chef der A-Gruppe, für genau einen Tag.
Mozarts Requiem.
Ein auftauchender Meisterspion und Fälscher von Identitäten.
Das im Zweiten Weltkrieg eingekesselte Stalingrad und ein Duell zweier Scharfschützen.
Stockholm, das blutige Chios des späten Mittelalters und Venedig, das heute sehr mörderisch sein kann.
Neue und alte Liebes- und Entliebesgeschichten.
Eine Häusersuche im Mittelmeer.
Schusswechsel.
Der erste Tote für Gunnar Nyberg.
Und ein vertrackter barocker Schreibtisch aus Leipzig.
Diese so disparat, ja fast beliebig anmutenden Details führt der Schwede Arne Dahl in seinem siebten Band um die A-Gruppe, seine Stockholmer Spezialermittlergruppe, elegant zusammen. Arne Dahl alias Jan Arnald, der 1963 geborene schwedische Autor und Zeitschriftenredakteur, hat inzwischen auch im deutschsprachigen Raum die prestigereichsten Preise erhalten, die man auf dem Krimisektor erhalten kann, so unter anderem den Deutschen Krimipreis. Und es dürfte ein geringes, ja überhaupt kein kriminelles Wagnis sein zu behaupten, mit seinem jüngsten, wieder von Wolfgang Butt zuverlässig übersetzten Kriminalroman dürfte er wieder in die engste Auswahl zahlreicher Jurys und Nominierungen gelangen. Denn er hat einen Thriller geschrieben, der durch seine Charaktere besticht – selbst die Mörder erweisen sich als verwirrend sympathisch und menschlich gebrochen –, durch sicher gehandhabte Spannungsbögen und eine vertrackte, dabei entspannte und überraschend wendungsreiche Dramaturgie. Sowie durch literarische Bezüge, auch auf andere Bände der Serie um das Team von Kerstin Holm, Paul Hjelm, der inzwischen bei der Internabteilung ist, und die anderen Kollegen, sowie durch reizende En-passant-Details. Etwa dass Viggo Norlander, wohl gemerkt Polizist, im Schnee zur Parkuhr stapft und doch zu spät zum geparkten, mit einem Strafzettel gebrandmarkten Auto kommt. Oder die lebhafte Schilderung einer Open Air-Auktion, bei der lange im Dunkeln bleibt, wer denn der mysteriöse Helfer war, dem Arto Söderstedt es verdankt, das Sekretärsmöbel ersteigern zu können.
„Totenmesse“ ist ohne Zweifel einer der besten Bücher Arne Dahls. War der Vorgängerband Ungeschoren eine Mittsommernachtsphantasie, in der die unterschiedlichen Charaktere ungewohnt viel Platz einnahmen und Genrekonventionen zusätzlich unterlaufen wurden, indem die eigentliche Ermittlung erst auf Seite 200, also auf der Hälfte des Buches, einsetzte, so ist dies in „Totenmesse“ anders. Ganz anders. Denn dies ist von Anfang an ein raffinierter, harter Kriminalfall. Bei dem es nicht nur bei einem Casus, bei einer Tätersuche bleibt. Sondern es folgt eine ganze Kette, die Arne Dahl am Ende als raffinierter Dramaturg bezwingend sicher auffädelt. Seine Personen, in teils neuen Positionen, beruflich wie Kerstin Holm als Leiterin der A-Gruppe oder emotional umgesiedelt wie Paul Hjelm, dessen Ex-Frau zu den Geiseln in der Bank gehört und auf die wenig später ein Anschlag verübt wird, navigiert er sicher durch die Geschehnisse und die Ermittlungsarbeit. Wenn sich Dahl dann noch das trotz parataktischer Sätze Raum greifende Pathos à la Henning Mankell entledigte, dann wäre er diesem noch mehr überlegen, als er es als plot-Konstrukteur und Charakter-Zeichner ohnehin ist.
Am Ende bleibt nur eine Frage offen, ein Wunsch – noch – unerfüllt: Ließe sich vielleicht etwas an der Publikationsgeschwindigkeit der Übersetzungen ändern, geschätzter Piper Verlag? Immerhin sind seit der schwedischen Erstveröffentlichung von Dödsmässa schon fünf Jahre verstrichen und seither vier weitere Romane erschienen.
Von Alexander Kluy
Literaturangaben:
DAHL, ARNE: Totenmesse. Kriminalroman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Piper Nordiska Verlag, München 2009. 416 S., 19,95 €.
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