ZÜRICH (BLK) – Im März 2007 ist bei Ammann das Sachbuch „Primum Mobile“ von Bruno Binggeli erschienen.
Klappentext: Bruno Binggeli nimmt den Leser mit auf eine faszinierende Reise zum Ursprung der Dinge, zum Big Bang oder Urknall. Gleichzeitig zeichnet er einen Bogen zu den Himmelssphären-Forschern des Mittelalters – unter ihnen der große Dante –, und macht so die moderne Astronomie mit den mittelalterlichen Jenseitstheorien bekannt. Gnade und Quantenphysik – Binggeli zeigt, sein immenses Wissen in einem mitreißenden Ton vortragend, daß das Mittelalter und die Moderne sich viel näher sind, als man glaubt. Das Primum Mobile, der oberste Kristallhimmel als Treibriemen der Welt, entspricht in gewisser Weise dem Big Bang der modernen Astronomie, ebenfalls eine Grenze ohne Jenseits. Wissenschaftlich exakt und zugleich anschaulich geschrieben, verblüfft dieses einzigartige Werk den Leser mit einem neuen Blick auf den Ursprung des Kosmos und den unaufhörlichen Forschungsdrang des Menschen.
Bruno Binggeli, geboren 1953 in Frick/Aargau, ist Physiker und Galaxienforscher an der Universität Basel, außerdem leidenschaftlicher Dante-Leser. Er arbeitet als Astronom in Kalifornien, Chile und Florenz, wo er gleichzeitig seine Italiensischkenntnisse aufbesserte, um Dante im Orginal lesen zu können. Als Wissenschaftler schreibt er u.a. über Zwerggalaxien und überrascht immer wieder mit unkonventionellen Ansätzen.
Leseprobe:
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Besinnen wir uns auf die Erfahrungswelt unseres Alltags auf Erden: Welch winzige Nische im physikalischen Parameterraum stellt sie doch dar! Die räumliche Dimension, von der wir (zumindest ursprünglich) eine unmittelbare Anschauung besitzen, erstreckt sich von vielleicht 0,1 mm (einer Haaresbreite) bis zu einem Horizont von höchstens 50 km (so weit wir in einem Tag maximal marschieren können). Ebenso beschränkt sich unser Zeitempfinden auf die Zeitspanne von ca. 1 Sekunde (dem menschlichen Herzschlag entsprechend) bis bestenfalls 100 Jahre (unserer maximalen Lebensspanne). Auch Gewichte, Geschwindigkeiten, Temperaturen usw., die wir aus unserer Umwelt kennen, bewegen sich in einem ganz schmalen, mittleren Größenbereich innerhalb der ganzen Parameterskala, welche Physik und Astronomie im Lauf der Jahrhunderte ausgelotet haben. Gemessen an der riesigen Klaviatur der Natur, spielt sich unser Leben auf der Schlüsselloch-Taste C ab. Der Erkenntnistheoretiker Gerhard Vollmer hat dafür den Begriff des Mesokosmos eingeführt. Der Mesokosmos ist der Bereich der mittleren Dimensionen (gr. mesos = Mitte). Nach oben erstreckt sich der Makrokosmos (gr. makros = groß), nach unten der Mikrokosmos (gr. mikros = klein).
Der Mensch ist ein „Bewohner“ des Mesokosmos. Alle seine Sinnesorgane sind evolutionär durch die mesokosmische Umwelt geprägt worden, und alle seine Sinneswahrnehmungen beschränken sich auch auf diese. Das menschliche Auge etwa kann keine Röntgen- oder Radiostrahlen wahrnehmen; seine Empfindlichkeit beschränkt sich ganz auf das „sichtbare Fenster“ innerhalb des unendlich breiten elektromagnetischen Spektrums. Der Grund liegt darin, daß alle andere Strahlung, die von oben einfällt, von der Erdatmosphäre absorbiert und verschluckt wird.
Es ist erwiesen, daß auch das Gehirn, unser „Erkenntnisapparat“, und damit ebenso unser bewußtes Denken diesen Prägungscharakter hat, d. h. durch eine bestmögliche Anpassung an die mesokosmische Umwelt primär auf diese eingespielt ist. So wird auch verständlich, daß wir z. B. in der Astronomie zwar mit Lichtjahren rechnen und darüber reden mögen, wie wenn es sich um Kilometer handeln würde, daß es aber keinen Menschen auf dieser Welt gibt, der sich eine solche Distanz wirklich (was immer das heißen soll) vorstellen kann – intellektuell verstehen gewiß, aber nicht anschaulich im Sinne einer potentiellen Erfahrung; unser Vorstellungsvermögen muß hier, von Natur aus, versagen. Genauso sträubt sich der „gesunde Menschenverstand“ etwa bei der Einsteinschen Relativitätstheorie, wo Raum und Zeit, diese Urkonstanten der menschlichen Umwelt, selbst ins Wanken geraten.
Angesichts dieser natürlichen Beschränkungen der menschlichen Erfahrungswelt mag man sich fragen, warum der Mensch trotzdem, und seit jeher, unbedingt aus seiner mesokosmischen Lebenszelle ausbrechen will. Worin liegt die Wurzel dieses Ausbruchversuchs, dieses beständigen Strebens nach einer Erweiterung der Umwelt und des Bewußtseins, das den Menschen so radikal vom Tier unterscheidet?
Schon dem „primitiven“ Menschen mußte aufgefallen sein, daß seine Umwelt (wie wir heute sagen würden) kein in sich abgeschlossenes System darstellte. Man denke nur an das unsichtbare Erdreich unter seinen Füßen: die „Mutter Erde“, die alles trägt; oder an die Wolken, die von irgendwo herziehen und Wasser spendenden Regen bringen. Am stärksten mußte diese Abhängigkeit von außen bei der Wahrnehmung des gestirnten Himmels aufscheinen, besonders natürlich des Tagesgestirns, der Licht und Wärme spendenden Sonne. Daß alle unsere Sinneswahrnehmungen auf den Mesokosmos beschränkt seien, wie oben gesagt wurde, ist eben doch nicht ganz richtig. Es gibt dieses eine „Loch in der Büchse“, dieses eine „Fenster zur Welt jenseits“ unserer unmittelbaren Umwelt: den Anblick des unbewölkten Himmels, der uns Sonne, Mond und Sterne – ein Stück Makrokosmos also – sehen läßt. Das ist der „Stachel“, der uns nicht in unserer Lebensnische ruhen läßt. – Der Mensch begehrt von Natur aus zu wissen, heißt es im ersten Satz der „Metaphysik“ des Aristoteles. Das hat seinen „guten“ entwicklungsgeschichtlichen Grund: Es gehört zur Überlebensstrategie des Menschen, daß er seine physische Umwelt immer weiter erkundet, wenn nicht gar erobert – und das Tor zum Himmel steht weit offen. Freilich war der Mensch zunächst einer objektiven Sicht dieser jenseitigen Welt nicht fähig, sondern hat jene Naturmächte unbewußt mit den Determinanten seiner psychischen Innenwelt, d. h. mit Gottheiten, identifiziert. Aber schließlich liegt in solchem Wissensdrang letztlich doch die Wurzel der objektiven neuzeitlichen Naturwissenschaft.
An dieser Stelle möchte ich einen Begriff einführen (er wurde eben beiläufig benutzt), den sicher manche in der Naturwissenschaft für ganz deplaziert halten, der aber ganz gut, wenn vielleicht auch etwas plakativ, die in diesem Buch hergestellten Bezüge zwischen altertümlicher und moderner Weltsicht suggeriert. Gemeint ist das Jenseits, als räumliche Metapher für ein Gebiet, das der menschlichen Erfahrung nicht direkt zugänglich ist, unsere Existenz im Diesseits jedoch trägt und lenkt. Das Jenseits ist das für die Erreichung der Ganzheit notwendige Komplement zum Diesseits; erst im Jenseits „gehen die Dinge auf“. Im striktesten Sinne ist mit dem Jenseits die Transzendenz gemeint, also das, was unsere Erkenntnismöglichkeiten prinzipiell übersteigt. Aber es gibt traditionell auch ein weniger striktes Verständnis des Jenseits, worunter nur die unserer sinnlichen Erfahrung unzugänglichen Gebiete der Wirklichkeit verstanden werden. Das können irgendwelche verborgenen („höheren“) Dimensionen sein, deren Existenz die moderne Physik seit längerem postuliert, oder auch ganz einfach Gebiete des dreidimensionalen Raums, die riesig groß oder winzig klein sind.
Diese weniger strikte Definition wenden wir nun auf die potentiell erkennbare Außenwelt an und identifizieren unsere sinnlich erfahrbare Umwelt, den Mesokosmos, mit dem „Diesseits“; die uns entrückten Bereiche des Makrokosmos und des Mikrokosmos aber mit dem „Jenseits“. Natürlich ist eine genaue Grenzziehung problematisch. Man würde z. B. kaum darauf bestehen, daß alle Ortschaften, welche die Reichweite eines Tagesmarsches übertreffen, dem Jenseits zugeordnet werden (es sei denn, man möchte alle paar Tage eine „Jenseitsreise“ antreten!). Für eine „primitive“ Zivilisation wäre das noch gültig gewesen. Heute aber, nach einer dramatischen Entwicklung der Mobilität, wo Geschäftsleute in einem Tag um die Erde jetten und Astronauten in drei Tagen den Mond erreichen können, muß man wohl das mesokosmische Diesseits der modernen, abendländischen Zivilisation (sagen wir, großzügigerweise) auf das ganze Planetensystem ausdehnen. In tausend Jahren mag sich die Erfahrungswelt des Menschen vielleicht bis zu den nächsten Sternen erstrecken; aber angesichts der schier unendlichen Weite des Weltalls ist diese Erweiterung nicht wirklich relevant.
Das Universum der Galaxien ist nicht nur wegen der für uns unerreichbar großen Entfernungen „jenseitig“ zu nennen; es ist vielmehr so, daß die Signale, die wir mit Hilfe empfindlicher Meßinstrumente an den großen Teleskopen empfangen können, uns grundsätzlich keine Kunde vom Jetzt-Zustand der beobachteten Himmelskörper geben, sondern bloß von deren Vergangenheit. Das folgt direkt aus der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit. Seit Einsteins Relativitätstheorie wissen wir, daß es keine Erfahrungsmöglichkeit der Gleichzeitigkeit gibt; alles, was wir sehen können, ist bereits vergangen. Im täglichen Leben spielt das natürlich keine Rolle, denn das Licht ist sehr schnell. Aber im Weltraum tritt diese Eigenheit in voller Schärfe zutage. Selbst wenn man also die Teleskope als eine Art verlängerte Sinnesorgane ansehen darf, wird der Weltraum dadurch, wörtlich genommen, nicht erfahrbarer. Nicht daß wir deswegen von jeglicher Erkenntnismöglichkeit abgeschnitten wären – es lassen sich ja Theorien und Modelle bilden –, wohl aber von der Erfahrbarkeit. Das Universum ist also ein virtueller Raum. Aber es ist nicht irgendein virtueller Raum, sondern einer, der uns, von der Vergangenheit her, trägt und bestimmt. In diesem Sinne besitzt der ferne Makrokosmos tatsächlich alle Eigenschaften eines Jenseitsreiches.
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Literaturangabe:
BINGGELI, BRUNO: Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie. 2006. 528 S., 29.90 €.
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