MÜNCHEN (BLK) – Im Mai 2009 ist bei Knaus das Nachschlagwerk „Provinzlexikon“ von Henning Ahrens erschienen.
Klappentext: Alles, was Sie schon immer über die Provinz wissen wollten, in genau 274 Stichworten: Das neue Buch von Henning Ahrens ist ein Lese-, Entdeckungs- und Erinnerungsbuch für die vom Land und die aus der Stadt. Denn Provinz ist nicht nur ein Ort, sondern auch eine Haltung.
Provinz – ein Begriff, der viele Assoziationen weckt und mit endlos vielen Klischees behaftet ist. Von den einen wird sie verachtet und hämisch verlacht, von den anderen trotzig verteidigt und gelobt. Hier die geistige, dort die geographische Provinz. Letztere mit klaren Grenzen, erstere keineswegs, denn sie ist leider überall zu finden, ob auf dem flachen Land oder in der großen Stadt. Der Lyriker und Romancier Henning Ahrens, auf dem Bauernhof aufgewachsen, zog als junger Mann in die Stadt und lebt heute freiwillig wieder auf dem Land. Er hat sich zu verschiedenen Stichworten Gedanken über die Provinz gemacht. So schreibt er über die Geduld erfordernde Bahnschranke ebenso wie über die Dorfschönheit oder das Schützenfest. In seinem Buch sind aber nicht nur wie in einem herkömmlichen Lexikon Definitionen zu finden, sondern auch seine Ansichten, Analysen und persönlichen Erinnerungen. Die in der Großstadt beheimatete Illustratorin Jana Cerno hat sich von diesen Texten inspirieren lassen und das Lexikon gestaltet.
Henning Ahrens, geb. 1964, wuchs als Sohn eines Landwirts in einem niedersächsischen Dorf auf. Tätig war er u. a. als Treckerfahrer, Bullenfütterer, Rübenhacker und Strohablader. In der Zeit, die ihm neben diesen Pflichten blieb, erledigte er seine Schulaufgaben, las, zeichnete, schrieb und ergötzte sich an der Pracht der Norddeutschen Tiefebene. Nach einem Tauchgang durch die Universität kam er als Schriftsteller und Übersetzer glücklich an Land. Inzwischen lebt er schon wieder in einem niedersächsischen Dorf. Er vermisst das Treckerfahren. Das Rübenhacken vermisst er nicht. (ber/rud)
Leseprobe:
©Knaus©
Aas Als Schimpfwort („Du Aas!“) aus der Mode gekommen, in natura aber selbstverständlich immer noch anzutreffen. Beim A. handelt es sich entweder um nach einer Krankheit verendete oder von Autos überfahrene Tiere. Diese sind meist Kleinvieh wie Ratten, Igel, Hasen oder (leider) Katzen. Der Versuch, größere Tiere zu überfahren, z. B. Wildschwein oder Hirsch, endet meist damit, dass der Fahrzeugführer das A. und sein Auto Schrott ist. Schriftsteller mit zu wilder Phantasie wollen ihren Lesern einreden, das A. an den Straßenrändern werde von Menschen beseitigt; das ist falsch. Stattdessen kümmert sich die Tierwelt selbst um ihre Opfer. Zu den wichtigsten Konsumenten von A. gehören hierzulande Krähe und Fuchs, aber auch Menschen, die – meist ahnungslos – Gammelfleisch verspeisen; sie leisten wie Fuchs oder Krähe einen wichtigen Beitrag zur Hygiene der Natur. Mein größtes A. war ein von Raureif überzogener Rehbock, den ich an einem Wintertag im hiesigen Bruch auf einer Weide entdeckte; ich beließ es dabei, ein paar Photos zu knipsen. Später, als nur noch das Gerippe übrig war, löste ich den Schädel und nahm ihn als Deko mit nach Hause. Menschliches A. (metaphorisch verstanden) gibt es leider im Überfluss, man muss sich immer wieder damit herumplagen.
Christ Den C. erkennt man vor allem daran, dass er sich einen Sticker in Gestalt eines stilisierten Fisches (Ichthys) auf den Kofferraumdeckel klebt. Was dieses schmucke Bekenntnis über die Glaubenstiefe aussagt, muss noch erforscht werden. Andere C.enentrüsten sich darüber, dass man Kirchenbauten profan umnutzt, was wohl ein Aufbäumen gegen den Bedeutungsverlust der Kirche und ein Ausdruck biederer Erbostheit ist. Auf jeden Fall widerspricht diese Umwandlung der Behauptung, dass die Zahl der C.en wieder steige (ein Trug, der gegenwärtigen Ära des Fundamentalismus geschuldet). Dagegen spricht auch, dass in der Provinz seit Jahren Pfarrstellen zusammengelegt werden. Viele Pfarrer – die Rede ist hier von der evangelischen Kirche – müssen mehrere Dörfer auf einmal betreuen. Wenn ich am Sonntag frühstücke und dabei beobachte, wer durch die Gasse zum Gottesdienst geht, dann handelt es sich nach wie vor um die üblichen Alten, meist Frauen, und die Konfirmanden. Die Lebensmitte ist selten. Wenn der Glaube kein Bestandteil des Alltags mehr ist und in diesem nicht mehr gelebt wird, können schwerlich neue C.en nachwachsen, egal, was die Kirche tut – sie ist dann nur ein Durchlauferhitzer; hinterher kühlt alles wieder ab. Wie ich aus verlässlicher Quelle weiß (dem Mund einer Pastorentochter), haben in Berlin Freikirchen wie Baptisten oder Methodisten jedoch wieder regen Zulauf; ihre Gottesdienste werden gern auch von Paaren aus dem Prenzlauer Berg besucht (hinsichtlich der Zahl des Nachwuchses das Utah der Bundesrepublik), die dort die ungewisse Zukunft ihrer Kinder segnen lassen und für eine sichere Rente beten. Jenseits aller Kirchen ist der wahre C. natürlich ein Mensch, der seine Empathie bewahrt und versucht, sich nicht blenden zu lassen. Von gar nichts. Unbestechlichkeit. (Aber wie schwer ist sie zu bewahren!)
Eiche Komischerweise gibt es Leute, die sich vor der E. fürchten. Ich kenne eine Literaturkritikerin, die immer kurz vor dem Herzinfarkt steht, wenn in einem literarischen Text eine E. auftaucht; falls sie einmal einer in natura über den Weg laufen sollte (auch in der Großstadt dürfte es die eine oder andere geben), kann man nur das Beste hoffen. Wie Adler oder Löwe im Tierreich, ist die E. natürlich stärker mit Symbolik aufgeladen als jeder andere Baum: Die Römer weihten sie Jupiter, die Germanen Thor; auch in der Bibel taucht die E. mehrmals auf; in der Heraldik stehen Eichel und E.n-Blatt für Kraft, Edelmut und Langlebigkeit. Wie die Etymologie zeigt, war die Bedeutung der E. räumlich nicht beschränkt: Das lateinische quercus stammt wohl aus dem Keltischen (dem Begriff „Druide“ liegt übrigens das urkeltische druuid zugrunde, was „eichenkundig“ bedeutet); das deutsche Wort „Eiche“ und das englische oak leiten sich wie ihre Vorgänger aiks, ek oder eih von quercus aegylops bzw. aigylops ab. Da die genügsame E. auf keinen speziellen Boden angewiesen ist – man findet sie auf sandigen Flächen neben Kiefer und Birke –, waren einst weite Teile Europas von E.n-Wäldern bedeckt (in einem Märchen wie „Hänsel und Gretel“ schwingen noch Erinnerungen an diese Urwälder mit). Die besondere Stellung der E. verdankt sich ihrem langsamen Wachstum, ihrem hohen Alter und der Qualität ihres schweren und harten Holzes, das sich nicht verzieht, wegen der hohen spezifischen Dichte gegen Fäulnis gefeit ist und einen hohen Brennwert hat. Doch an so etwas denkt man natürlich nicht, wenn man im Sommer am Bach sitzt und im Schatten einer E. sein Buch liest; oder im Winter spazieren geht und eine E. sieht, die ihr rotes Laub nicht loslässt. Man assoziiert sie auch nicht gleich mit Germanen oder Eisernen Kreuzen mit E.n-Laub und Schwertern – so etwas fällt nur zur Überinterpretation neigenden Literaturkritikerinnen ein, die irgendwann, in einen Roman über die baumlose Steppe vertieft, gegen eine E. gerannt sind und sich das Spitznäschen blutig gestoßen haben.
Gehorsam, vorauseilender Eines der größten Übel unserer Zeit. Beobachten kann man ihn nicht nur in der Politik, die bei wichtigen Beschlüssen einknickt, um der „öffentlichen Meinung“ Genüge zu tun, oder die vor Islamisten kuscht, die zwar respektiert werden wollen, aber selbst niemanden respektieren, sondern auch im Medienbereich, einschließlich renommierter Verlage. Bei der Übersetzung von Jugendbüchern darf man den korrekten Konjunktiv nicht verwenden, weil er die armen Kleinen überfordern könnte; man muss sich vor Fremdwörtern hüten, weil sie vielleicht nicht verstanden werden; man senkt das Niveau der Literatur ab, um dem Leser entgegenzukommen (und möglichst viele Bücher zu verkaufen), den man für ungeheuer blöd zu halten scheint. Anstatt die Leute – die ja im Notfall googeln oder nachschlagen können – zu achten, indem man ihnen etwas zutraut, passt man sich dem Durchschnitts- Medienkonsumenten an, der pro Jahr maximal ein Buch liest, bei dem es sich dann entweder um eine Schnulze, ein populäres Sachbuch, einen Krimi oder um einen hochgejubelten, pseudo-bildungsbürgerlichen Roman handelt, aus dem man etwas „lernen“ kann (aber bitte möglichst stressfrei und unterhaltsam). In dieser Hinsicht zeigen viele Verlage einen v. G., der zu einer Erosion literarischer, ja kultureller Maßstäbe führt. Anstatt durch Anspruch zu fordern, passtmansich all jenen an, die glotzend konsumieren, und wirft wie am Fließband ein Buch nach dem anderen auf den Markt. Der Grund dafür sind durchaus berechtigte finanzielle Interessen, die jedoch, wie man weiß, stets kurzsichtig sind. Diese Absenkung der Ansprüche auf das Durchschnittsniveau – anders gesagt: auf ein geistig zutiefst provinzielles Niveau – ist nicht nur kulturell, sondern gesamtgesellschaftlich fatal, weil sie genau das produziert, was sie postuliert hat, nämlich die Verdummung; diese greift immer weiter um sich, bis schließlich sogar die Kritiker Romane über feuchte Mösen zu hoher Literatur erklären. Geistige Trägheit scheint inzwischen eines der höchsten Güter zu sein, und man darf mit seiner Unkultiviertheit und Unbelesenheit prahlen,da einem der Beifall der Menge sicher ist. Im Grunde handelt es sich hier um die Diktatur des Mittelmaßes – ja, der Maßstabslosigkeit – bzw. um die Herrschaft des Mobs, und diese hat immer nur eines zur Folge gehabt: den Absturz.
Junggesellschaft Die J., ein beliebter Verein in Dorf und Kleinstadt, hatte nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon Konjunktur und ist daher entfernt mit den Burschenschaften verwandt, deren erste 1815 in Jena gegründet wurde. Als Provinz-Phänomen ist die J. aber eher dem Schützenverein zuzurechnen, den es schon im 18. Jh. gab, und man darf wohl vermuten, dass sie, ähnlich wie der Turnerbund des „Vater Jahn“, in irgendeiner Form die patriotische Gesinnung stärken und der Wehrertüchtigung dienen sollte. Diese Ursprünge hat man längst aus den Augen verloren. Heute pflegt die J. eine zweckfreie Geselligkeit. Sie ist jungen Männern vorbehalten, deren Mitgliedschaft mit der Heirat endet. Die Vorstandsmitglieder nennt man „Schaffer“, und diese trugen bis in die zweite Hälfte des 20. Jhs. eine Art Husarenuniform samt Säbel (was auf einen paramilitärischen Ursprung hindeutet). Inzwischen tritt man einheitlich in Weiß auf. Neue Mitglieder heißen „Hammel“. Nach der Untersuchung durch die „Doktoren“ müssen sie sich einem Unitiationsritual unterziehen, „Einseifen“ genannt. Die Details dieses stets an Fastnacht stattfindenden Rituals sind geheim. Bekannt ist nur, dass der Hammel von Kopf bis Fuß mit Rasierschaum bedeckt wird, viel „Ratzeputz“ trinken muss und, wie es sich für den Neuling eines Männerbundes gehört, verspottet wird.
Im Anschluss verkleidet man sich, zieht durchs Dorf und sammelt Wurst und Eier, ein Brauch, der wie der Karneval in vorchristliche Zeiten zurückreicht (Austreibung des Winters; Tanz in den Mai ). Nach wie vor gehört auch das „Mädchenversteigern“ dazu, ein Ritual, durch das die jungen Männer – die oft gezwungen sind, auf ihre Freundin zu bieten, damit diese nicht von jemand anderem „ersteigert“ wird – ihren Jahresbeitrag entrichten. Die J., während des Nationalsozialismus als Konkurrenz zu staatlichen Organisationen aufgelöst, hilft maßgeblich bei der Ausrichtung des Schützenfests – bei dem natürlich auch ein Junggesellenkönig gekrönt wird – sowie diverser, über das Jahr verstreuter Feiern. Seit den 90ern gibt es auch Jungmädchenschaften, die sich zur Abgrenzung von den Männern gern englische Namen wie „Blue Sisters“ oder „Sunflowers „ geben.
Kneipe „Liebe Rosi, nach meinem orgiastischen, um nicht zu sagen: orgastischen Erlebnis in der Kleinstadt K. beschloss ich spontan, ein paar Dorfkneipen in der Gegend aufzusuchen. Aber, ach! Nichts reichte auch nur im Ansatz an das ‹Zinnober› heran, dessen düstere Schmuddeligkeit kulinarische Juwelen barg. Nicht, dass all diese Krüge, Kneipen oder Gaststätten zu verachten wären, nein: Man kann dort gemütlich sein Bierchen trinken, umgeben von viel Holz und Zinn, ein biederer Charme, der offenbar als gemütlich gilt. Manche quellen über von Artefakten, Dokumenten und Photos aus der Geschichte des Dorfs, und hin und wieder gibt es eine Bundeskegelbahn (wie Du weißt, hasse ich geselligen Sport; da ziehe ich lieber einsam meine Bahnen im Hallenbad), nur essen kann man in diesen Kneipen nicht, jedenfalls nicht hier im Norden. Wenn es eine Speisekarte gibt, bietet sie Gerichte à la Futtern-wie-bei-Muttern, als wären die Gäste ewige Kinder, sozusagen Peter Pans der Norddeutschen Tiefebene. (Immerhin: Nachdem ich drei oder vier dieser Gerichte probiert hatte – z. B. Schweinebraten mit Kartoffeln und Dosengemüse, fetttriefende Lose Wurst mit Ei und Gurke oder eine Erbsensuppe –, musste ich zugeben, dass sie besser mundeten als der Mikrowellenfraß britischer Pubs!) Im Dorf D. kam ich im Krug zum Grünen Kranze mit dem Wirt ins Gespräch, ein Mittfünfziger, breit wie ein Bär und ganzkörpertätowiert, der gleich im zweiten Satz behauptete, früher Bordellbetreiber gewesen zu sein. Trotz seiner berserkerhaften Erscheinung brach er fast in Tränen aus, als er mir seine wirtschaftliche Notlage schilderte: Nicht nur, dass die gewaltigen, runden Stammtischaschenbecher mit dem Logo der Lokalbrauerei seit dem Rauchverbot verwaisen, nein, die Mehrzweckhalle, in der man heute Hochzeit oder Fastnacht feiert, gräbt ihm das Wasser ab, ja, in den Achtzigern hat sie gar ein Kneipensterben ausgelöst, und die Jugendlichen ziehen coolere Kneipen oder den Jugendclub vor. Aus diesen Gründen hat er nur noch an drei Abenden in der Woche auf. Liebe Rosi, der Mann war verzweifelt! Um ihn zu trösten, wollte ich etwas zu essen bestellen, doch er schüttelte nur das tränennasse Gesicht, griff mit seiner Pranke unter den Tresen und reichte mir eine Tüte Erdnüsse. Im Hintergrund piepte der einsame Spielautomat, und im Fernseher lief leise eine dieser unsäglichen Soaps. Ach, es war deprimierend, Rosi … Er spendierte mir zwei Klare (er selbst trank vier), und dann fuhr ich. Glücklicherweise musste ich nicht pusten!“ (Brief von Richard R., Restaurantkritiker und Gourmet, an seine Cousine, Rosi R.)
Männerfastnacht Bei der letzten Landtagswahl fragte man mich im dörflichen Wahllokal, ob ich nicht zur M. kommen wolle, die einige Tage später stattfinden sollte. Ich druckste herum und schaute dabei in die Gesichter der drei Wahlhelfer, eines freundlich, die anderen mürrisch, machte meine Kreuze und ergriff die Flucht. Für Derartiges hatte ich nie etwas übrig, zumal man sich bei Veranstaltungen dieser Art so richtig die Kante geben muss, wie mein Nachbar zu berichten wusste, der am Tag nach der M. das Holz für seinen Kamin mit der Kettensäge zerlegte, obwohl er einen üblen Kater hatte. In manchen Dörfern hängt unter den Ortsschildern ein Plakat mit der Aufschrift: „Achtung M.!“, was man erst versteht, wenn man die verkleideten Junggesellen erblickt, die mit dem Bollerwagen von Haus zu Haus ziehen, Wurst und Eier sammeln und sich dabei einen hinter die Binde kippen – da kann man schon mal auf die Straße torkeln. Selbstverständlich ging mein Vater früher zur M., und ich erinnere mich, dass er einmal eine Büttenrede halten sollte. Er feilte lange daran und ließ sich nach einigem Herumdrucksen, das mir sowohl schüchtern als auch kokett vorkam, dazu überreden, sie im trauten Kreis der Familie vorzutragen. Sie war gut, auch das weiß ich noch. Ein paar Tage später wurde ein Photo in der Zeitung abgedruckt, das ihn in der Bütt zeigte; die Arbeit hatte sich gelohnt. Neben den Reden gibt es bei der M. Tanzeinlagen von als Frauen verkleideten Männern, Schwertschlucker und Feuerspucker, in größeren Dörfern (und zu später Stunde, wenn alle besoffen sind) auch Striptease- und Bauchtänzerinnen. All das hat bestimmt seinen Sinn, obwohl die ursprüngliche Bedeutung der Fastnacht in unserer eventgesättigten Gesellschaft, in der man nur im Wellnesscenter fastet, um sich zu „entschlacken“, verloren gegangen ist. Aber was soll’s. Interessant ist natürlich das Männerbündlerische; warum, fragt man sich, gibt es im 21. Jh. noch die Weiberfastnacht und die M.? Man könnte ja gemeinsam feiern.
Palazzo Prozzo „Neulich wieder Palazzo Prozzo photographiert. Warum gehen Geld u. Geschmack so selten Hand in Hand? Ein Rätsel! Frl. Gründel findet diesen P. P. schööön; all die nie-hie-hiedlichen Erker und Balkone, sagt sie. Darauf ich: Ist Paradebeispiel für Sterilität, inkl. des Exerzierplatzgartens! Sie: Ja, aber der alte Stall ist so stilvoll renoviert. Ich: Zu Tode renoviert! Erwürgende Hübschheit! Brechreiz! Frl. Gründel zeigt sich empört. (Wie hübsch sie errötet ... Hah!) Ich: Solche Bauten verschandeln die Provinz! Stilgefühl von Trampeltieren! Überladener Kitsch! Sie (den Tränen nahe): Ach, Herr K., seien Sie doch nicht so streng. Ich (gütig): Man muss die Dinge beim Namen nennen. Sie bittet um Abzug des Photos. Ich: Aber nur zur Abschreckung, Frl. Gründel! Ach, ihr schelmisches Lächeln …“ (Aus dem Tagebuch von Karl K., Dorf D., Eintrag vom18.03.2005)
Pacht Ackerland wird nicht vermietet, sondern verpachtet bzw. gepachtet. Man
hat es zur P., und man zahlt auch P. Diese bemisst sich am aktuellen Wert von Ackerland, der wiederum von Faktoren wie Bodenqualität (Bodenpunkt) oder Rübenkontingent und natürlich von der Konjunktur bzw. den Preisen für die jeweiligen Erzeugnisse abhängig ist.
Schaf Wenn das S., dieser hohlhörnige Wiederkäuer, nicht gerade auf einer ICE-Trasse Selbstmord begeht, frisst es das Gras der Weide, auf die es vom Schäfer getrieben wurde – diesen altehrwürdigen Beruf gibt es noch –, lässt sich gutmütig scheren und schenkt bereitwillig die Lämmer her, deren Fleisch unter den Menschen als Köstlichkeit gilt; der Begriff „Osterlamm“ hat seinen guten Grund, weil das S. den Nachwuchs im Frühjahr zur Welt bringt. Mit anderen Worten: Das S. nützt uns durch seine Wolle und sein Fleisch, aber auch durch seine Milch und – früher – durch seinen Dünger. Die Arten, die im Laufe der Zeit gezüchtet wurden, haben so klangvolle Namen wie Hampshiredownschaf, Heidschnucke, Bergamasker, Merino, Negrettis oder Rambouillets (die letzten beiden zeichnen sich durch dunkle Wolle aus). Auf unserem Hof waren die S.e bessere Rasenmäher, die das Gras im Obstgarten kurz hielten. Mein Vater verkaufte sie an die türkische Familie, die im alten Melkerhaus unseres Hofes zur Miete wohnte und sowohl Fleisch als auch Wolle verarbeitete. Ich kann mich vor allem an die Böcke erinnern, die immer wieder versuchten, einen von hinten umzurennen, und, wenn man beim Pflücken hoch oben im Birnbaum stand, gern gegen die Leiter anrannten; was unangenehm und außerdem wackelig war. Zur Verteidigung bewarf ich sie mit Birnen, aber diese Biester haben einen harten Schädel.
Schafweide, beleuchtete Fördergelder und Subventionen muss man verbraten, egal wie, weil sie andernfalls nicht mehr in gleicher Höhe fließen. Was zur Folge hat, dass Kommunen, Verbände und Organisationen Geld in Phantomprojekte stecken, die nach ihrem Abschluss bzw. ihrer Vollendung keinen Zweck erfüllen – eine verrückte, aber flächendeckend verbreitete Logik, die die Steuerzahler mit Sicherheit Millionen kostet. Ein Paradebeispiel für diesen Irrsinn ist die sog. „b. S.“, bei der es sich um ein aufwendig erschlossenes Gewerbegebiet handelt, in dem sich weder Gewerbe noch Handel oder Industrie ansiedeln wollen. Neue Straßen, die durchs Nichts führen, Laternen, die das Unkraut erhellen. Die b. S. ist keineswegs nur ein Phänomen der Provinz, doch in der hiesigen Kleinstadt gibt es ein schönes Beispiel dafür: Nachdem man einen Boxerclub (der Hund ist gemeint!) passiert hat, schlängelt sich die Straße plötzlich in scharfen Kurven durch ein verkrautetes Areal mit dem Charme eines Truppenübungsplatzes; man fragt sich, ob dort jemals etwas entstehen wird, zumal es eher so aussieht, als wäre etwas Bestehendes zurückgebaut worden –ein fast unwirkliches Gelände von so großer suggestiver Kraft, dass man meint, sich auf einer Teststrecke zu befinden, sein Auto für einen Boliden hält und dementsprechend auszufahren versucht. Drei Kurven später muss man wieder abbremsen, auf Höhe eines Autohauses, das den Audi TT anbietet, den man sich nie wird leisten können (falls man ihn überhaupt haben möchte), und fährt schließlich betrübt an dem Gelände vorbei, auf dem die Stadt ein „Spaßbad“ erbauen lässt. Spätestens dort kommt man wieder in der Realität an, eine Realität, die oft absurder ist als der absurdeste Traum.
Vatertag Eigentlich Himmelfahrt, aber da der Mann unbedingt ein Pendant zum Muttertag brauchte, hat er sich selbst eines geschaffen. Am V. ziehen Männer meist jüngeren Alters durch die Gegend, entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad, immer jedoch mit einem Anhänger oder Bollerwagen, der mehr oder minder hochprozentige Getränke enthält. Diesen spricht man ausgiebig zu, um sein Geschlecht zu feiern, denn das Saufen war stets ein Beweis für Männlichkeit, nicht zuletzt unter Junggesellen(Junggesellschaft). Man muss seine Leere und Hohlheit schließlich irgendwie füllen, während man über all jene lästert, die sich dem stumpfsinnigen und provinziellen Macho-Ritual des V.s verweigern. Am Ende grölt man Lieder oder einfach nur Unfug, um sich am Röhren des Rudels zu berauschen, torkelt besinnungslos blau auf die Straße und wird von einem Lkw überfahren. Dafür bekommt man dann ein Kreuz am Straßenrand und bleibt für immer in Erinnerung: „Hier starb Kevin, der sich im Suff für einen Mann und Vater hielt.“
Waldweg In meiner Jugend hielt ich mich oft im Wald auf, lief herum oder setzte mich mit einem Buch auf einen Hochsitz oder an den Bach. Damals kannte ich jeden Weg und Steg des Waldes, Gräwig genannt, und als ich ihn nach Jahren der Abwesenheit wieder betrat, war ich schockiert: Die alten Wege waren verschwunden, vor allem die durch die Schonungen führenden Pfade, die ich sehr geliebt hatte. Entweder waren sie überwuchert, weil sie niemand mehr beschritt, oder durch breite, befestigte Fahrwege ersetzt worden, die Treckern und Maschinen beim Holzeinschlag Platz boten (Forst). Bei diesem Besuch wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass die Landschaft meiner Kindheit nicht mehr existierte, dass die Vergangenheit von der Gegenwart überdeckt worden war und dass sogar der Wald, den ich für unveränderbar gehalten hatte, einem steten Wandel unterlag. Das war, wie gesagt, zunächst ein kleiner Schock, doch nachdem ich sehr lange gesucht hatte, ohne etwas Vertrautes zu entdecken, nicht einmal den Weg mit dem Ameisenhaufen bei den Hügelgräbern, begann ich mich damit abzufinden. Nicht, dass ich mir neue Wege gesucht hätte, zumal ich auch die Stimmung nicht mehr fand, die mich dort erfüllt hatte – man selbst verändert sich ja auch; die vage Wehmut der Pubertät verfliegt irgendwann, und ich versuchte auch nicht, die alten Erinnerungen an bestimmte Anblicke oder Gerüche wachzurufen. Stattdessen schob sich eine Art Glastür vor die Vergangenheit, eine Tür, die eine Rückkehr zwar unmöglich machte, zugleich aber auch der Nostalgie den Weg versperrte. Darüber war ich froh. Was ich allerdings manchmal vermisse, ist die tiefe emotionale Verbundenheit mit etwas so Banalem wie einem W., und dann befürchte ich, dass man mit dem Alter an Empfindsamkeit einbüßt bzw. eine Offenheit für bestimmte Sinneswahrnehmungen verliert (oder diese nicht mehr mit Gefühlen auflädt). Vielleicht, weil man inzwischen zu viel nachdenkt.
Weide Im Gegensatz zur Wiese ist die W. umzäunt und dient der Viehhaltung. Sie ist
entweder mit einem Elektrozaun geschützt, der, wie man am eigenen, unachtsamen Leib erfahren kann, für eher schwache Stromstöße sorgt (die aber sogar Rinder das Fürchten lehren), oder mit einem Stacheldrahtzaun. Dieser ist am weitesten verbreitet und hat durchaus seinen Charme, vor allem, wenn er älter ist und die Pfosten allmählich verwittern und vermodern; wenn man darüberklettert, kann er hässliche Löcher in Jeans und Haut reißen. Vor der Freiluftsaison des Viehs sollte man ihn ausbessern, denn Bullen sind imstande hindurchzupreschen, als wäre er Luft. Auf der W. grast alles, was Gras frisst, am häufigsten aber Pferd und Kuh.
Zwickelwelt Der Bereich, wo das Land zwischen Gleisen und Autobahntrassen in der Falle sitzt; dort endet die Provinz. Der Begriff Z. stammt von Peter Handke. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, in welchem Roman er ihn benutzt, aber lassen wir ihm die Ehre der Erfindung dieses schönen Wortes. Jeder kennt den Anblick der einsamen Gehöfte (oft im Besitz von Schaustellern, wie man an den Wagen erkennen kann), die auf diesen dreieckigen Parzellen zwischen Straßen und Gleistrassen stehen. Man sieht sie im Vorbeifahren und spürt ihren Zauber, der Einsamkeit und Entlegenheit verheißt. Dort zu wohnen und die vorbeirasenden Autos und Züge zu beobachten – in diesen von der Zivilisation aus dem Land gehackten Winkeln muss man sich vorkommen wie aus der Welt gefallen. Unwirklich. Wie in der Transitlounge eines Großflughafens, unterwegs von der Provinz in die Metropole oder umgekehrt. Handke versteht die Z. als Verstümmelung, doch sie hat einen bizarren Reiz, sogar als vollständig isoliertes Gehölz zwischen Autobahnauffahrten.
Zylinder Dieses Buch endet mit dem Z. Nicht, weil dieser etwas mit der Provinz zu tun hätte, sondern weil die nach Stichworten geordnete Ausgabe der Briefe Hans Jürgen von der Wenses (1894–1966), von dem auch das Motto dieses Buches stammt, mit dem Eintrag „Aas“ beginnt und mit „Z.“ endet. Abgesehen davon, dass das Dorf, aus dem die Familie von der Wense stammt, im Norden dieses Landkreises liegt; abgesehen davon, dass Wense, sollte es so etwas wie ein Genie geben, tatsächlich eines war (ein manisch-depressives, begnadet in fast allen Künsten), von alledem abgesehen lebte dieser Mann nach einigen Berliner Jahren, in denen er sich als Komponist betätigte, als Privatgelehrter in der Provinz, wegen der dortigen Bibliothek seit den 30er-Jahren in Göttingen. Und er erwanderte sich die Provinz, denn er liebte die Mittelgebirge Hessens und Ostfalens. Er starb – wie könnte es anders sein? – verkannt und arm und ohne seine Arbeiten veröffentlich zu haben, bei denen es sich um Essays, Gedichtübertragungen aus den entlegensten Sprachen, Photos und vieles andere mehr handelte. Man könnte mit Recht behaupten, er hätte sich verzettelt; mit dem gleichen Recht könnte man allerdings sagen, dass er ein Universalgelehrter war – vielleicht einer der letzten. Obwohl in der Provinz lebend, war er weltläufig, feingeistig und sensibel, auf verschrobene Art weise und mit einem Humor begabt, der das Höchste und Niedrigste einschloss; in Wenses Briefen stehen Schilderungen alltäglicher Dinge und Begebenheiten neben scharfsinnigen Betrachtungen sowie philosophischen und künstlerischen Sentenzen. Diese Offenheit nach allen Seiten, verbunden mit Kunstverstand, hohen Maßstäben, Menschlichkeit und einem unbestechlichen Intellekt, ist der Gegenpol des Provinzialismus.
©Knaus©
Literaturangabe:
AHRENS, HENNING: Provinzlexikon. llustrationen und Buchgestaltung von Jana Cerno. Knaus Verlag, München 2009. 304 S., 19.95 €.
Weblink:
Knaus Verlag