Von Torsten Klaus
BERLIN (BLK) - „Normal ist es, zu Hause zu bleiben.“ Diesen Satz hatte einst Günter de Bruyn in petto, als er im Nachgang einer Lesung gefragt wurde, warum er die DDR nicht verlassen habe. Es ist ein Satz, der so auch auf das Leben des Lyrikers Rainer Kirsch zutrifft. Denn Kirsch, der an diesem Freitag (17. Juli) seinen 75. Geburtstag feiert, blieb in „seinem“ Land, obwohl ihn die parteiliche Obrigkeit ihr andauerndes Misstrauen in gnadenloser Konsequenz spüren ließ: 1957 von der Universität Jena verwiesen, 1965 das Abschlussdiplom am Leipziger Literatur-Institut Johannes R. Becher verweigert, 1973 nach harscher Kritik an seiner Komödie „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt“ aus der Partei ausgeschlossen. Hätte Kirsch den Weg Wolf Biermanns genommen, wäre es nachvollziehbar gewesen.
Doch Kirsch blieb - und schrieb. Seine Kritik an den Zuständen in der DDR war immer Hinweis darauf, dass daraus Besseres erwachsen solle. Besonders der Philosoph Ernst Bloch war mit seinem Eintreten für einen humanen Marxismus für den jungen Dichter ein entscheidender Impulsgeber. 1957 wurde für beide zum Schicksalsjahr: Kirsch flog von der Uni, Bloch verlor seinen Lehrstuhl als Ordinarius für Philosophie in Leipzig. Was für den Hochschullehrer dem Ende einer Auseinandersetzung mit Staat und Partei gleichkam - vier Jahre später ging er in den Westen -, war für den im sächsischen Döbeln geborenen Kirsch deren Beginn.
„Es geht darum, das Gute oder wenigstens Bessere dem Schlechten als Beispiel wirksam entgegenzusetzen“, schrieb Kirsch 1965 in seiner theoretischen Abschlussarbeit am Literatur-Institut. Der damals 31- Jährige gab ihr den Titel „Kunst und Verantwortung - Probleme des Schriftstellers in der DDR“. Darin lässt er auch wissen, dass Autoren wie Christa Wolf, Erwin Strittmatter oder Erik Neutsch „dem Leben auf den Grund“ gingen. In der Lyrik nennt er Georg Maurer, Günter Kunert, Karl Mickel und Volker Braun. Seine Hoffnung war, die dogmatischen Vorstellungen von sozialistischem Realismus zu zerstören. Sie blieb trügerisch.
Als Autor traf Kirsch, der acht Jahre mit der Lyrikerin Sarah Kirsch verheiratet war, immer wieder auf Schwierigkeiten. Erstmals veröffentlichte er 1961 Gedichte, zusammen mit Kollegen wie Werner Bräunig, Heinz Czechowski und dem Freund Mickel. Doch die „sächsische Dichterschule“, in die ihn die Literaturwissenschaft gern steckt, ist wohl viel zu heterogen, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
In der so genannten Lyrik-Debatte von 1966 warfen staatstragende Kritiker Kirsch eine „Apotheose der Unbestimmtheit und Ungewissheit“ vor. Daraufhin konnte er in der DDR kaum veröffentlichen: Es sollte bis 1982 dauern, als der Rostocker Hinstorff-Verlag unter dem Titel „Ausflug machen“ immerhin 55 Gedichte Kirschs in einem schmalen Bändchen vereinte. Etwa 18 000 Stück davon gingen in der Folge über die Ladentische.
Kunstvoll in Inhalt und Stil, überzeugen vor allem seine Sonette. Die Themen sind sehr unterschiedlich. Das Sinnlich-Erotische lässt er zum Beispiel in „Sonett“ (1968) anklingen, das mit den Zeilen beginnt: „Und als die siebente Stunde Frühe schlug/ Erwachten wir sehr blaß in ihrem Bette./ Ich fragte, ob ich sie genügend hätte./ Sie sagte: nein. Und wie ich sah, mit Fug -/.“ Doch auch Politisches schrieb er wie die programmatischen Schlusszeilen aus „Meinen Freunden, den alten Genossen“ (1962): „Und die Träume ganz beim Namen nennen;/ Und die ganze Last der Wahrheit kennen./“
Kirsch begegnete den ihm auferlegten Einschränkungen mit einer ganz anderen Flucht: Er machte sich als Nachdichter einen Namen, vor allem aus dem Russischen. Er übersetzte Sergej Jessenin, Anna Achmatowa, Wladimir Majakowski und Ossip Mandelstam. Die Liste seiner Nachdichtungen ist mindestens ebenso lang wie sein eigenes Werkverzeichnis. Dazu kommen Kinderbücher, Reportagen, Essays, Hörspiele und die Oper „Das Land Bum-Bum“ (1973/74).
Vor fünf Jahren widmete ihm der Eulenspiegel Verlag endlich eine vierbändige Werkausgabe. Wer darin blättert, erinnert sich vielleicht an Kirschs Satz, dass schon zehn „wirklich große Gedichte“ für einen Lyriker viel seien. In „Schwimmen bei Pizunda“ (1971) heißt es abschließend: „Ich hab noch vierzig Jahre, oder mehr.“ Der „gewitzte Dichter aus der DDR“, als den ihn Literaturkritiker Jörg Magenau bezeichnete, dürfte Recht behalten.