FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Im November 2008 ist im Campus Verlag das Sachbuch „Der Crash des Kapitalismus. Warum die entfesselte Marktwirtschaft scheiterte und was jetzt zu tun ist“ von Ulrich Schäfer erschienen.
Klappentext: Die Finanzkrise erschüttert die Wirtschaft in einem Ausmaß, das die Welt seit 80 Jahren nicht mehr erlebt hat. Sie vernichtet Milliarden, macht Konzerne zahlungsunfähig, bedroht Arbeitsplätze und gefährdet unzählige Existenzen. Verunsicherung breitet sich aus. Panik kommt auf. Die entfesselte Marktwirtschaft ist gescheitert – mit gefährlichen Folgen für unsere Gesellschaft: Sie driftet auseinander, die Kluft zwischen Reich und Arm wächst und die Mittelschicht packt die Angst vor dem Abstieg. Der Wirtschaftsexperte Ulrich Schäfer erzählt die dramatische Geschichte vom Crash der Finanzmärkte. Packend und kenntnisreich hilft er uns, seine langfristigen Ursachen zu verstehen. Und er zeigt, was wir jetzt tun müssen, damit Wirtschaft und Gesellschaft wieder festen Boden unter die Füße bekommen.
Ulrich Schäfer, geboren 1967, absolvierte nach dem Studium der Volkswirtschaft in Münster und Washington D.C. eine Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Im Anschluss arbeitete er zunächst als Wirtschaftsjournalist beim „Spiegel“ und danach bei der „Süddeutschen Zeitung“. Seit Anfang 2007 ist er dort Ressortleiter der Wirtschaftsredaktion. (jud/dan)
Leseprobe:
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Die Schere öffnet sich
Täglich spüren wir so die Widersprüche der entfesselten Marktwirtschaft. Wir erleben, wie der ungezügelte Kapitalismus Sieger und Verlierer schafft, wie er im Übermaß belohnt und abstraft und die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Die Scheren öffnen sich.
Die Einkommensschere
Die Löhne und Gehälter der normalen Beschäftigten steigen nur noch langsam. Wenn man die Inflation berücksichtigt, hat die breite Masse in Deutschland im Jahr 2008 nicht mehr Geld in der Tasche als Anfang der neunziger Jahre, sondern weniger. Zugleich steigen die Einkünfte der Spitzengruppe rasant. Wer zum untersten Zehntel der Gesellschaft zählt, hatte 2006 im Durchschnitt 13 Prozent weniger in der Tasche als vierzehn Jahre zuvor. Wer zum reichsten Zehntel gehörte, dessen reales Nettoeinkommen ist dagegen im gleichen Zeitraum um 31 Prozent gestiegen, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet. Die 650 Deutschen mit dem höchsten Vermögen verdienen nach Berechnungen des DIW im Durchschnitt 15 Millionen Euro, die 65 Reichsten der Reichen kassieren gar 48 Millionen Euro pro Jahr. Doch wenn die Ungleichheit allzu groß wird, droht die Gesellschaft zu zerreißen: Der Unmut der Zurückgelassenen wächst. Der soziale Kitt zerbröselt. Noch größer ist der Abstand zwischen Topverdienern und Niedrigverdienern in den USA. Anfang der achtziger Jahre erhielt ein amerikanischer Firmenchef 40-mal so viel wie ein durchschnittlicher Arbeiter, Ende der neunziger Jahre war es das 400fache, und mittlerweile gibt es einzelne Manager, die 4 000-mal so viel verdienen wie ein Angestellter. Die 13 000 reichsten Familien des Landes verdienen so viel wie die 20 Millionen ärmsten Familien zusammen. Und der Irrwitz dieser riesigen Gehälter wird noch deutlicher, wenn man über die Grenzen hinausschaut: 2,7 Milliarden Menschen auf der Erde müssen mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen.
Die Vermögensschere
Drastischer noch als die Einkommen bewegen sich die Vermögen auseinander. In Deutschland konzentriert sich der Reichtum in den Händen einer kleinen Oberschicht. Die Reichen wohnen in schicken Vororten, leisten sich großzügige Villen und fahren mit noblen Limousinen über die Boulevards. In den Randbezirken sind derweil die Habenichtse unterwegs: Arbeitslose, die kaum etwas besitzen außer Schulden; Menschen, die ohne staatliche Fürsorge hungern müssten. 13 Prozent der Deutschen gelten der Bundesregierung zufolge als arm. Ohne Sozialleistungen wären es doppelt so viele. Wie sehr die Vermögen in Deutschland auseinanderklaffen, hat das DIW errechnet. Demnach besaßen die Deutschen im Jahr 2007 die unvorstellbare Summe von 5,4 Billionen Euro. Im Durchschnitt nennt jeder 81 000 Euro sein Eigen. Doch was besagt schon der Durchschnitt? Denn fast 60 Prozent des Reichtums in Deutschland befinden sich in den Händen des obersten Zehntels der Gesellschaft. Währenddessen besitzt das unterste Zehntel praktisch keine Geld und Sachwerte. Und es wird die Reichen niemals einholen können. Dies birgt sozialen Sprengstoff – auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen. In den USA sind die Unterschiede noch gravierender. Und in Schwellenländern wie China, Russland oder Indien entfernt sich die Oberschicht ebenfalls immer schneller vom Rest der Gesellschaft. Addiert man das Vermögen aller 1 125 Milliardäre der Welt, die das Magazin Forbes 2008 in seiner Rangliste aufführt, kommt man auf 4,4 Billionen US-Dollar. Die 1 125 Superreichen besitzen ungefähr so viel wie die gut drei Milliarden Einwohner von Indien, Pakistan, Bangladesch, Indonesien, Thailand, Malaysia, Vietnam, den Philippinen und Afrika zusammen in einem Jahr erwirtschaften.
Die Risikoschere
Ökonomen betonen gerne, dass zu den Chancen, die der Kapitalismus bietet, als Kehrseite das Risiko gehört. Wer viel gewinnen will, muss damit leben, dass er auch viel verlieren kann. Tatsächlich sind die Risiken in der entfesselten Marktwirtschaft höchst ungleich verteilt. Wenn Topmanager einen Fehler machen, müssen sie in aller Regel nicht den Absturz fürchten. Wer in die Chefetagen einzieht, hat sich vorher meist dicke Abfindungen und eine Haftpflichtversicherung für Manager im Vertrag garantieren lassen. Für die Fehler der Konzernführer haften weit häufiger die Beschäftigten. Weil die Spitze von Siemens nicht so genau hinschaute, als sie die Handysparte des Konzerns an das taiwanesische Unternehmen BenQ verkaufte, standen ein Jahr später 3 000 Menschen auf der Straße. Und nun zahlen für die Fehler der Bankmanager sogar alle Bürger: Der Staat rettet mit Steuermilliarden, was die Finanzkonzerne zuvor mit privaten Milliarden verloren haben. Und Millionen Menschen, die mit der Zockerei der Spekulanten nichts zu tun hatten, werden durch die globale Krise ihren Job verlieren.
Die Bildungsschere
Wer flexibel ist und gut ausgebildet, bewegt sich mit Leichtigkeit durch die globale Wirtschaft; wer aber diese Fähigkeiten nicht besitzt, bleibt schnell zurück. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder oft nicht mehr auf die staatliche Schule, in den staatlichen Kindergarten oder auf die staatliche Universität, sondern in private Bildungsstätten. Er kann wählen aus einem wachsenden Angebot. Leisten können sich dies meist nur diejenigen, die gut verdienen. Privatschulen verlangen schon mal 15.000 Euro Schulgeld pro Jahr. Und wer seine Kinder anschließend auf eine Eliteuniversität in Frankreich, Großbritannien oder den USA schickt, ist schnell 50.000 Euro los. Alle, die sich diese teure Ausbildung nicht leisten können, sind auf die staatlichen Schulen angewiesen, auf oft übervolle Klassen, heruntergekommene Gebäude und bisweilen demotivierte Lehrer. Denn der Staat steckt viel zu wenig Geld in die wichtigste Ressource der Zukunft: in die Bildung seiner Bürger.
Die Wachstumsschere
Die Industrieländer lagen über Jahrzehnte vorn, ihre Wirtschaftsleistung machte ein Vielfaches dessen aus, was die Schwellenländer produzierten. Doch mit dem Aufstieg von Ländern wie China, Indien oder Russland verschieben sich die Gewichte. Die Milliardenvölker aus den Aufsteigerstaaten wollen die Jobs der Industrieländer, sie wollen ihre Fabriken und ihre Unternehmen. Russen kaufen Werften in Ostdeutschland oder Baufirmen in Österreich, Chinesen erwerben Banken in London oder New York, Araber interessieren sich für europäische Flugzeugbauer und amerikanische Häfen, Inder kaufen Stahlkonzerne in Frankreich und Autohersteller in Großbritannien. Die Schwellenländer greifen nach allem, was der Stolz des Westens war. Sie pflegen dabei oft eine eigene Form des Kapitalismus: die autoritäre Spielart. Sie nutzen die Vorteile des globalen Wettbewerbs, schotten aber selbst ihre Volkswirtschaften ab. Staatliche Konzerne beherrschen in diesen Ländern die Schlüsselbranchen und sind mit der Regierung verwoben. Zugleich drängen die Staatskonzerne und Staatsfonds, die die Devisenreserven verwalten, auf den Weltmarkt. Die Schwellenländer präsentieren mit ihrem autoritären Kapitalismus einen Gegenentwurf zur liberalen Wirtschaftsordnung des Westens.
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Literaturangaben:
SCHÄFER, ULRICH: Der Crash des Kapitalismus. Warum die entfesselte Marktwirtschaft scheiterte und was jetzt zu tun ist. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008. 320 S., 19,90 €.
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