Wie konnte das nur geschehen? Das ist die brennendste Frage, die einem die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust diktiert. Jede Generation hat sie zu beantworten versucht, aber trotz der verschiedenen Erklärungen bleibt ein Grundmaß an Unverständnis zurück, versucht man auch nur sich jene sechs Millionen zu vergegenwärtigen.
Die Unzulänglichkeit der Erklärungen wird besonders bei den großen Historikerdebatten deutlich, die weniger durch ihre Erklärungsleistung als vielmehr in ihrer Funktion als historische Momentaufnahmen der Erinnerungskultur glänzen. Vor fast zehn Jahren provozierte der Soziologe Daniel Goldhagen mit seiner These von einem „eliminatorischen Antisemitismus“ oder vulgärer: die Deutschen seien geborene Juden-Killer. Diese Erklärung steht in der Tradition geistesgeschichtlicher Ansätze, die den Völkermord vom Geist her erklären wollen. Sieben Jahre später folgte dann das materialistische Pendant.
„Hitlers Volksstaat“ von Götz Aly war auf seine Weise nicht weniger provokant, obgleich differenzierter als Goldhagens These. Aly behauptete, dass der Nationalsozialismus eine „Gefälligkeitsdiktatur“ gewesen sei, ein „nationaler Sozialismus“, von dem Millionen Volksgenossen profitiert und ihm daher die Treue gehalten hätten. Das Regime sei so sehr von den Erfahrungen von 1918, d.h. dem Zusammenbruch der „Heimatfront“, beeinflusst gewesen, dass es sozialstaatliche Wohltaten auf Kosten der Bessergestellten, Regimegegner und schließlich der besetzten Länder verteilte, um das deutsche Volk bei der Stange zu halten.
Den Genozid nannte Aly entsprechend den „größten Massenraubmord der Geschichte“ und beschloss sein Buch mit den Worten: „Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.“
Alys Erklärungsansatz umschiffte geistesgeschichtliche Traditionen wie den Antisemitismus und behauptete schlicht, dass Krieg und Holocaust profitabel waren, sowohl für den Unternehmer, der den „arisierten“ Konkurrenzbetrieb einheimsen konnte, als auch für den kleinen Gefreiten Böll, der die besetzten Länder leer kaufen konnte – auf deren Kosten. Die Kritik an Alys Buch ließ nicht lange auf sich warten. Neben viel Zustimmung und Anerkennung, neuen Wind in die zeitgeschichtliche Debatte gebracht zu haben, gab es auch solche Kritiker, die Aly „engstirnigen Materialismus“, „Autismus gegenüber der Forschung“ und Rechenfehler vorwarfen.
Einer der seriösen Kritiker, die in ihren Besprechungen nicht zugleich Privatfehden mit Aly verfolgten, war Adam Tooze. Der Wirtschaftshistoriker aus Cambridge kreidete Aly zum einen statistische Fehler bei der Erfassung der deutschen Einnahmen und Ausgaben im Zuge von Krieg und Völkermord an. Zum anderen wehrte er sich gegen den Begriff „Gefälligkeitsdiktatur“ und erklärte, dass es sich bei dem Nationalsozialismus stattdessen um eine „Mobilisierungsdiktatur“ gehandelt habe, die die Volksgenossen nicht mit Raubgütern und anderen Geschenken bestach, sondern ihnen durch eine radikale Mobilmachung vielerlei Verzicht aufbürdete.
Die These von der „Mobilisierungsdiktatur“ ist deswegen so interessant, weil Tooze damit Aly nicht allgemein, sondern innerhalb dessen materialistischer Interpretation der NS-Geschichte zu widerlegen versuchte. Wie Aly glaubt Tooze, dass wirtschaftshistorische Zusammenhänge das zwölfjährige Reich und dessen Vernichtungspolitik erklären können. Wie das genau geschah, legt Tooze in seinem knapp tausendseitigem Werk „Ökonomie der Zerstörung: Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus“ dar.
Das Buch ist nicht wie „Hitlers Volksstaat“ der Beitrag eines Außenseiters, der sich um seinen akademischen Ruf nicht schert, sondern das sorgsam elaborierte Übersichts- und Synthesewerk eines angesehenen Historikers. Dass es sich um einen angesehenen britischen Historiker handelt, verbürgt überdies eine gute Lesbarkeit und eine auf großen Thesen gestützte Argumentation. „Ökonomie der Zerstörung“ ist entsprechend mehr als nur eine Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, nämlich der gelungene Versuch, die Diktatur, den Krieg und den Genozid aus wirtschaftshistorischer und rationaler Perspektive zu erklären.
Das beginnt schon beim originellen Ausgangspunkt: Nicht der Versailler Vertrag oder das „internationale Judentum“ hätten Hitlers Pläne für einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg bestimmt, sondern die Vereinigten Staaten. Wie viele seiner Zeitgenossen hat er in den 1920er Jahren den ökonomischen und letztlich auch politischen Aufstieg der USA vorausgesehen. Ihren Aufstieg führte er vor allem auf die im Überfluss vorhandenen Ressourcen des Landes zurück und folgerte, dass, wenn Deutschland dem je etwas entgegensetzen wolle, es sich ein ähnlich umfangreiches Gebiet erobern müsse. Und da Hitler die USA von Juden beherrscht wähnte, war der Konflikt mit diesem aufstrebenden Staat nur eine Frage der Zeit.
Zeit aber hatte das Regime ebenso wenig wie ausreichend Ressourcen, nachdem ihm 1933 die Macht übergeben worden war. Mit jedem neuen Jahr wurde die Aussicht auf eine ausreichende Mobilisierung geringer; je später der Krieg einsetzte, desto unwahrscheinlicher würde ein deutscher Gewinn. Was folglich einsetzte war die größte Aufrüstung, die je ein nichtstalinistischer Staat zu Friedenszeiten betrieb. In dem Maße aber, in dem der Staat die infolge der noch immer geschwächten deutschen Wirtschaft arg begrenzten Ressourcen von der Konsum- in die Rüstungsindustrie umleitete, war er alles andere als eine „Gefälligkeitsdiktatur“.
Auch wenn die Erkenntnis unter Wirtschaftshistorikern nicht mehr ganz neu ist, zeigt Tooze doch eindrucksvoll, dass es nach 1933 nicht die großangelegten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegeben hat, die dem NS-Regime so oft als Erfolge angerechnet worden sind. Das Vorzeigeprojekt des Autobahnbaus etwa war vor allem eine rüstungspolitische Maßnahme, deren Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit marginal war.
Die großen „Arbeitsschlachten“ waren vor allem propagandistische Strohfeuer, die nicht über die anfängliche Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik des Regimes hinwegtäuschen können, so noch 1934, als das Volk wegen Lebensmittelknappheit murrte. Durch die ganzen 1930er Jahre hindurch war der Lebensstandard in Deutschland gering; heute entspräche er demjenigen Südafrikas, Tunesiens und des Iran.
Die radikale Umverteilung zugunsten der Rüstung bedeutet aber nicht, dass Deutschland sich damit bewusst die aus dem Rückblick scheinbar unbesiegbare Wehrmacht der Jahre 1939 und 1940 erkaufte. Der Devisen- und Rohstoffmangel und die von Deutschland in Gang gebrachte Rüstungsspirale zwangen das Regime gleichsam auf Risiko zu spielen und möglichst bald einen Krieg vom Zaun zu brechen, den es sehr wahrscheinlich nicht gewinnen konnte. Als Hitler sich 1939 entschloss Polen anzugreifen, war das ökonomische Ende seines Reiches abzusehen. Seinen Generälen sagte er einige Tage vor Kriegsbeginn: „Wir haben nichts zu verlieren, wohl zu gewinnen. Unsere wirtschaftliche Lage ist infolge unserer Einschränkungen so, dass wir nur noch wenige Jahre durchhalten können.“
Tooze erweist sich als vorbildlicher Historiker, wenn er gleich an mehreren Stellen daran erinnert, wie verzerrt unser Blick auf den Krieg ist. Für Hitler und seine Generäle war der rasche Sieg über Frankreich alles andere als absehbar. Umso risikoreicher war ihre Entscheidung in den Krieg zu ziehen, obgleich sie wegen eines Rüstungseinbruchs 1939 nur Munition für wenige Wochen Dauerbeschuss hatten. Auch war die vielgerühmte deutsche Panzerwaffe zahlenmäßig wie technisch der französischen unterlegen; allein die Luftwaffe war auf der Höhe der Zeit, würde sich aber gegen die vereinten Verbände der Franzosen und Briten, die beide von den Amerikanern unterstützt wurden, nicht durchsetzen können.
An Stellen wie diesen zeigt sich die Stärke des Autors, Wirtschafts-, Diplomatie- und Militärgeschichte zusammenzudenken und ihre Abhängigkeiten darstellen zu können. In deren Schnittpunkt steht die Logik der NS-Entscheidungsträger, eine Mischung aus rassistischer Ideologie und unbedingter Rationalität.
So erscheinen der Einmarsch in die Sowjetunion und die Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten, die gemeinsam das Schicksal des „Dritten Reichs“ besiegelten, als zwar hochriskante, aber aus Sicht des Regimes rationale Entscheidungen: Wenn ein Sieg überhaupt möglich sein sollte, dann musste man mehr Land und Ressourcen erobern ehe die geballte Wirtschafts- und Militärmacht der Amerikaner über das Reich hereinbrechen würde; die Vorstellung, dass die USA vom „Weltjudentum“ kontrolliert würden und die Rote Armee wegen „rassischer Minderwertigkeit“ schnell zu schlagen sei, erleichterten es, va banque zu spielen.
Selbst die beiden unbegreiflichsten Vorgänge des Krieges, der Völkermord und die für Millionen von Menschen fatalen Rüstungssteigerungen der letzten beiden Kriegsjahre, lassen sich rational erklären. Während die Ermordung und das Aushungern der polnischen Juden und sowjetischen Bürger und Soldaten eine Methode war, um die katastrophale Ernährungslage zu entschärfen, behob der millionenfache Einsatz von Sklavenarbeitern den beträchtlichen Arbeitskräftemangel in Deutschland. Je näher das Ende rückte, desto radikaler wurde rationalisiert, so dass zuletzt kein Gewaltmittel mehr tabu war, um den Krieg zu verlängern.
Adam Tooze hat mit „Ökonomie der Zerstörung“ eine faszinierende, von rationalen Entscheidungen ausgehende Erklärung des Nationalsozialismus gegeben. Seine These von einer „Mobilisierungsdiktatur“, die alles auf eine Karte setzte, ist wohl begründet und überzeugend dargestellt.
Ironischerweise wird dadurch aber noch unverständlicher, warum ein ganzes Volk das Regime unterstützte, obwohl dieses ihm so viel abverlangte. Tooze gerät an die Grenzen seines Ansatzes, wenn er die Leerstellen seiner Erklärung behelfsweise mit „Ideologie“ erklären muss, etwa wenn er die Rüstung selbst zum Konsumgut erklärt, an dem sich die bescheiden lebende „Volksgemeinschaft“ anstelle echter Konsumgüter berauschte. Sein Buch bietet somit eine kluge, jedoch unvollständige Antwort auf die Frage, wie all das geschehen konnte. Mehr wird aber kein Historiker je leisten können.
Von Thomas Hajduk
Literaturangaben:
TOOZE, ADAM: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. Übersetzt aus dem Englischen von Yvonne Badal. Siedler Verlag, München 2007. 928 S., 44 €.
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