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Rechtsnovelle mit Sühnegedanken?

Theodor Fontanes Erzählung „Ellernklipp“

© Die Berliner Literaturkritik, 04.02.10

Von Klaus Hammer

Die Entwicklungslinie der großen späten Prosaepik Theodor Fontanes steht unter dem Zeichen: von der Geschichte hin zur Gegenwart. Die ohnegleichen produktive Strömung vom Ende der 1870er Jahre bis zu Fontanes Tod im Herbst 1898, immerhin durch zwei ihm noch geschenkte Altersjahrzehnte konstant, setzt ein mit vier geschichtlichen Erzählungen: „Vor dem Sturm“ (1878), „Schach von Wuthenow“ (1883), zwei Romanen aus der Napoleonischen Zeit, und den Novellen „Grete Minde“ (1880), mit einem nachreformatorischen Stoff, und „Ellernklipp“ (1881), wo die historische Distanzierung auf die Mitte des 18. Jahrhunderts schon kaum mehr mitgelesen zu werden braucht.

Von diesem Zeitpunkt an hat Fontane nur noch Epik mit gegenwärtigem Stoff geschrieben, wenn auch Gestalten wie etwa Graf Petöfy oder der alte Stechlin wie ein Charaktererbe der Vorzeit in diese Gegenwart hineinragen, die ihnen als ihre Geschichte zudiktiert wird. Eigentlich ist aber diese Unterscheidung gar nicht so wichtig: Man könnte „Schach von Wuthenow“ auch in die Restaurationszeit transponieren, ohne dass viel verloren ginge. Man könnte das Leitwort von „Ellernklipp“: „Ewig und unwandelbar ist das Gesetz“ ebenso gut auf die späteren Erzählungen „Unterm Birnbaum“ oder „Quitt“ anwenden, also auf das alttestamentliche Sühnemotiv, das Fontane, modernisiert in der Gesetzesvertretung durch die Gesellschaft, zeitlebens faszinierte. Es wäre ebenfalls reizvoll, die Verbindungslinie zwischen „Grete Minde“ und „Effi Briest“ oder auch „Cécile“ zu ziehen.

Also entsteht auch zu Beginn der großen Altersperiode Fontanes, die vier historische Erzählungen umfasst, um dann dem Gegenwartsstoff das Wort zu lassen, eigentlich überhaupt keine ‚historische’ Erzählkunst im engeren Sinne. Es geht in ihnen nicht allein um den Befreiungskrieg oder das friderizianische Preußen oder ein Problem des nachreformatorischen Zeitalters. Ihre Motive sind eher symbolischer Hinweis auf menschliche Konflikte und Krisen, die quer durch alle Zeiten gehen. Das Zeitlich-Historische an sich ist aber bei Fontane nirgendwo Selbst- oder Darstellungszweck.

Am deutlichsten wird das vielleicht an der Erzählung „Ellernklipp“, die dtv jetzt innerhalb seiner kommentierten Taschenbuchausgaben der Werke Fontanes herausgebracht har. „Nach Aufzeichnungen eines Harzer Kirchenbuchs“ entstanden (Fontane hat einen ihm erzählten Mordfall in den Ilsenburger Kirchenbüchern nachgelesen), spielt hier die anfangs angegebene historische Zeit, die Mitte des 18. Jahrhunderts, gerade nur als Fluchtmöglichkeit zu den „Preußen“, als bloße Anspielung auf das dann Fontane beschäftigende Thema, mit. Die fast antikische Tragik des Vater-Sohn-Motivs ist überhistorisch, und die Gestalt des Waisenkindes Hilde mit ihrer Mischung von Schönheit und Müdigkeit könnte in jedem modernen Roman stehen. Kein Wunder also, dass Fontane fortan auch  auf das Historische als bloße Anspielung verzichtet.

Eine Rechtsnovelle ist „Ellernklipp“: aus der Wurzel der „Judenbuche“ der Annette von Droste-Hülshoff sozusagen, wie es noch mehr die beiden späteren nichthistorischen Erzählwerke, die Raubmordgeschichte „Unterm Birnbaum“ und der Wilderer- und Amerika-Roman „Quitt“ sein werden. Auch schon in „Ellernklipp“  - so die Bezeichnung einer mit Erlen bewachsenen Felswand im Harz, um die sich das Mord-Geschehen rankt - ist der im 19. Jahrhundert so beliebte Wilderer-Stoff einbezogen. Doch mehr in der Funktion des Mittels, das Schicksal zu vertreten. Der Heidereiter Baltzer Bocholt ist Forstaufseher, und etwas von dem düsteren Glanz und von der finsteren Autorität, die er ausstrahlt, beruht auf der Unerbittlichkeit, mit der er „das Gesetz“ wahrnimmt und den Wilderer ohne Zögern erschießt.

Eines Tages wird man auch ihn erschossen nach Hause tragen. Doch ist das nur die Sphäre, nicht das Motiv. Das Motiv liegt in der zwischen Vater und Sohn aufbrechenden Eifersucht um die müde und träumerische illegitime Grafentochter Hilde, die der Heidereiter als Pflegetochter zusammen mit seinem Sohn Martin bei sich aufwachsen lässt.

Fontane wollte, wie er uns wissen lässt, in ihr „die dämonisch-unwiderstehliche Macht des Illegitimen und Languissanten“ zeigen. „Sie tut nichts, am wenigsten etwas Böses, und doch verwirrt sie regelrechte Verhältnisse. Sie selbst, ohne den Grundton ihres Wesens zu ändern, verklärt sich und überlebt das Wirrsal, das sie gestiftet“. Sein Pflegekind sei zu Höherem geboren, das ist schon von Anfang an Bocholts erklärte Absicht. Beide, Vater und Sohn, verfallen dem Reiz der anmutigen Erwachsenen, und es kommt auf Ellernklipp zum Kampf, bei dem der Vater den Sohn in die Tiefe stößt. Von nun an aber lässt ihn sein Gewissen nicht mehr los, und bald nach der danach erzwungenen Heirat mit Hilde erfüllt sich sein Schicksal an der gleichen Stelle. Eine Charakternovelle von den drei Hauptgestalten, aber im übergreifenden Motiv eine Rechtsnovelle mit symbolischem Sühnegedanken: Die Unbedingtheit des Gedankens einer Wiederherstellung verletzten Rechtes durch ein ewiges Recht, durchgeführt mit einem Rest von Romantik.

Doch dieser Schuld-Sühne-Gedanken trägt die Geschichte nicht allein. Menschliches Glück bleibt hier allenfalls ein Geschenk des Zufalls oder ein Resultat der einsichtigen Selbstbescheidung. Alle Versuche, diese Grenzen im Namen einer persönlichen Moral zu durchbrechen, erscheinen dem „Ellernklipp“-Verfasser, ungeachtet ihrer Berechtigung gegenüber dem konventionellen „Sittengesetz“, als höchst problematisch. Das liegt daran, dass die Prädestination und die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse gleichermaßen zwanghaft wirken und im persönlichen Leben des Einzelnen zu fatalistischen Konsequenzen führen konnten. Ursächliche Zusammenhänge, die Verkettung von Verbrechen und Strafe auf der einen, die absichtslose „Wirkung“ schon des Kindes Hilde und dann erst recht dieser jungen Frau auf der anderen Seite, spielen hier eine Rolle.

Weniger von Hilde selbst als aus den Beobachtungen der Personen ihrer Umgebung – des Pastors Sörgel, der Haushälterin Grissel, des Kuhhirten Melcher Harms, Hildes einzigem Vertrauten, dessen Märchen und biblische Geschichten ihr die utopische Versprechung einer „anderen“ Existenz und eines Liebesglücks zu geben scheinen – erfahren wir von ihrem Wesen. Und ihren Reizen – selbst im kindlichen Spiel – ist der Heidereiter, auch wenn er es sich selbst noch nicht eingestehen will - und mit ihm der Erzähler -, von Anbeginn an verfallen. Warum weint das Kind nicht am Totenbett der Mutter  und fügt sich ohne weiteres in die strenge Ordnung des Heidereiter-Hauses ein, ständig in Furcht vor der Allgegenwart ihres Ziehvaters und späteren Ehemannes? Warum entfacht ihre bloße Gegenwart, ihr „träge und abgespannte“ Haltung ebenso wie ihr späteres „Blühen“, eine solche Leidenschaft in Vater und Sohn, die schließlich den Vater, den doch unnachsichtigen Ordnungshüter, zum Mörder seines Sohnes werden lassen?

Oder ist Hilde etwa ein männliches Phantasiekonstrukt der Fontane-Zeit, des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Femme fatale und Kindfrau in einer Gestalt? Auch dass die Geschichte „unmittelbar nach dem Siebenjährigen Kriege in einem Harzdorf“, so Fontane, genauer 1767 bis 1781, spielt, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Die Konsequenzen würden dann moralisch als Schuld-Sühne-Mechanismus erscheinen, der nicht aus den „natürlichen Konsequenzen“ des eigenen Handelns oder Verfehlens rational zu erklären ist. Stets aber bleibt ein dunkler „Rest“, ein Rest an Unaufgelöstem, ja Unauflösbaren, der nur wie von ungefähr als „Fatum“ umschrieben werden kann.

Eine solche Konstellation erfordert, wie nicht nur „Ellernklipp“, sondern auch „Grete Minde“ erweist, einen bestimmten Typ des auf novellistische Begebenheiten zugeschnittenen „Einheitsromans“ (Theodor Fontane), der am Schicksal einer Figur und einer menschlichen Beziehung ein mehr oder weniger fatalistisches Lebens- und Handlungsprogramm vorführt, das durch das Zusammenwirken von vorbestimmter individueller Eigenart, sozialen Situationen und daraus hervorgehenden Schuldverstrickungen exponiert oder gar vorgegeben ist. Zwar legt Fontane in beiden Erzählungen Rechts- und Kriminalaffären aus der historischen Vergangenheit zugrunde, doch interessiert ihn in erster Linie dabei die „psychologische Aufgabe“, wogegen das Historische zwar als reizvolle Atmosphäre erscheint, im Grunde aber wesenlos und austauschbar bleibt.

„Ellernklipp“ gehört zweifellos nicht zu den Hauptwerken Fontanes, ist mehr oder weniger ein Nebenprodukt. Aber dennoch geht von der Erzählung ein geheimer Reiz aus , der ebenso in der knappen psychologischen Figurenschilderung, in der eigenartigen Verbindung von mythischen und psychologischen Elementen, vor allem in der „Magie“ dieser jungen Frau, wie im landschaftlichen Ambiente des Harzes und natürlich in dem zugrunde liegenden Kriminalfall zum Ausdruck kommt. Man muss nicht „selber nach Wernigerode gehen, auf einem Waldhügel oder einer Graswalze sitzen und (dort) die Geschichte von der rotblonden, nicht zum Glücke geborenen Kinde lesen“, wie das Fontane seinen „Ellernklipp“-Kritikern empfohlen hat, man kann das überall tun und wird die Geschichte dennoch wie in einem Atemzug lesen.  Derjenige aber, der sich nähere Aufschlüsse verschaffen möchte, findet im Anhang eine mustergültige Kommentierung, die aus einer Darstellung der Entstehungsgeschichte, Text-Anmerkungen, Briefzeugnissen Fontanes, einer Zeittafel, Literaturhinweisen und einem präzis zusammenfassenden Nachwort des Fontane-Spezialisten Helmuth Nürnberger besteht.

 

Literaturangabe:

FONTANE, THEODOR: Ellernklipp. Erzählung. Mit einem Nachwort von Helmuth Nürnberger (Hg). Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 158 S., 6.90 €.

Weblink:

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

 


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