MÜNCHEN (BLK) – September 2008 erscheint „Die Literatur, eine Heimat. Reden über und von Marcel Reich-Ranicki“, herausgegeben von Thomas Anz, bei der DVA.
Klappentext: Marcel Reich-Ranicki hat seine Heimat nicht in einer Stadt, nicht in einem Staat gefunden, sondern in der deutschen Literatur. Doch stilisiert er diese deshalb nicht zu einer lebensfernen Gegenwelt. Er hat vielmehr alles darangesetzt, das Gespräch über Autoren und ihre Werke für ein breiteres Publikum zu öffnen – und dafür erhielt er u.a. den Goethe-Preis, den Hölderlin-Preis sowie die Ehrendoktorwürden der Universitäten Tel Aviv, München und Berlin. In diesem Band sind Laudationes auf Reich-Ranicki aus den vergangenen Jahren versammelt: von Joschka Fischer, Michael Naumann, den Germanisten Peter von Matt und Peter Wapnewski. Sowie Reich-Ranickis Dankreden, in denen er mit erhellender Anschaulichkeit über Thomas Mann, Jürgen Habermas und auch über sich selbst zu berichten weiß. Ediert wird diese einzigartige Sammlung von Thomas Anz, dem besten Kenner des Werks von Marcel Reich-Ranicki.
Thomas Anz, geboren 1948 in Göttingen, war Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung an der Universität Bamberg. Seit Oktober 1998 ist er Professor für Neuere deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg. (vol/dan)
Leseprobe:
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VORWORT
„Deutschland ist ein großes Land“, erklärte der irische Dramatiker und Satiriker George Bernard Shaw im Jahre 1905, „und wie alle großen Länder ist es auch bescheiden. Es überläßt gern die Ehrung seiner bedeutendsten Männer dem Ausland.“ Walter Jens zitierte den Satz, als sein Freund Marcel Reich-Ranicki 1972 die Ehrendoktorwürde erhielt. Es war die erste Würdigung dieser Art für die Leistungen eines Literaturkritikers, der schon damals der wichtigste in Deutschland war. Doch nahm man sie nicht dort vor, sondern in Schweden, an der Universität Uppsala.
Auch in Deutschland folgten bald etliche Ehrungen: Plaketten, Medaillen und Preise im Namen Heinrich Heines, Goethes, Ricarda Huchs oder Thomas Manns. Aber es dauerte zwanzig Jahre, bis hier zwei Universitäten, in Augsburg und in Bamberg, den Entschluss fassten, dem Beispiel Schwedens zu folgen. Damit war ein Bann gebrochen. Die bislang letzte Ehrendoktorwürde, die neunte, ist die mit der wohl größten Symbolkraft. Sie wurde Reich-Ranicki 2007 an jener Universität in Berlin verliehen, die dem Juden im April des Jahres 1938, ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung und Deportation nach Warschau, die Immatrikulation zum Studium der Germanistik verweigert hatte.
Die sechsundzwanzig in diesem Band versammelten Reden über und von Marcel Reich-Ranicki sind aus Anlass diverser Würdigungen seines Lebenswerkes entstanden und haben darüber hinaus eines gemeinsam: Sie wurden nach dem 15. August 1999 gehalten, dem Tag, an dem Mein Leben erschien, und sie beziehen sich alle auf diese Autobiografie. Kein Buch dieses Autors, der sich über Misserfolge seiner literaturkritischen Publikationen gewiss nicht zu beklagen braucht, war erfolgreicher als dieses. Mit keinem ist es ihm gelungen, ein größeres Publikum zu erreichen und es sich zum Freund zu machen. Sogar chronische Gegner des Kritikers ließen sich von der Lektüre tief beeindrucken und wandelten sich zu Sympathisanten.
Reich-Ranicki wurde als ein Kritiker bekannt, der die öffentliche Meinung über seine Person und über seine Standpunkte stets polarisierte. Übersehen wurde dabei oft seine Fähigkeit, die Interessen ganz unterschiedlicher Lesergruppen mit seinen Kritiken anzusprechen, mit seiner klaren, für jeden verständlichen Sprache niemanden, der sich für Literatur begeistern kann, aus dem Gespräch über sie auszuschließen. Von dieser Fähigkeit zeugen auch die zum Teil so völlig konträren Persönlichkeiten, deren Festreden in diesem Band veröffentlicht sind. Minister und Ministerpräsidenten in allen politischen Farben, die Bundeskanzlerin, ein angesehener Theologe und Universitätspräsident, hochrangige Literaturwissenschaftler und Kulturjournalisten, ein so populärer wie gewitzter Entertainer im Fernsehen, ein weltberühmter Philosoph oder der bedeutendste Verleger der deutschen Nachkriegsgeschichte, sie alle zeigen sich von Reich-Ranicki beeindruckt. Spätestens bei der Lektüre von Mein Leben begriff jeder, dass sein passionierter Umgang mit Literatur einem existenziellen, lebenserhaltenden und – intensivierenden Bedürfnis entspricht. Für den Sohn einer deutschen Jüdin und eines polnischen Juden, dem die jüdische Religion fremd war, der in Polen geboren wurde, in Berlin zur Schule ging, 1938 von den Nationalsozialisten nach Warschau deportiert wurde, nach dem Krieg beinahe zwei Jahre in London als Diplomat tätig war, 1958 in die Bundesrepublik reiste und nicht mehr nach Polen zurückkehrte, einige Jahre in Hamburg wohnte und seit 1973 in Frankfurt am Main lebt, konnte kein Ort auf dieser Welt zu einer Heimat werden. Seine Heimat ist die Literatur, vor allem die deutsche. Sie ist, mit dem von ihm und dann auch von anderen immer wieder zitierten Wort Heinrich Heines, sein „portatives Vaterland“, eigentlich aber sein Mutterland. Die Liebe zur deutschen Literatur und Kultur ist mit der Liebe zu seiner Mutter Helene Reich, geborene Auerbach, unmittelbar verbunden. Die Mutter beschaffte sich in Polen deutsche Bücher, abonnierte das Berliner Tageblatt, zitierte in Gesprächen gern die deutschen Klassiker, und wenn der Sohn ihr zum Geburtstag gratulierte, machte sie ihn regelmäßig darauf aufmerksam, dass sie am gleichen Tag wie Goethe geboren sei.
Die Literatur, eine Heimat – der Titel dieses Bandes klingt vielleicht ein wenig pathetisch, allzu feierlich und ernst. Dieses Pathos schließt allerdings Witz und Vergnügen keineswegs aus. Reich-Ranickis Bekenntnisse zur Literatur sind, wie auch in diesem Band nachzulesen ist, Liebesbekundungen durchaus erotischer Art, Bekenntnisse zu ihren Qualitäten eines Spiels, das vor allem einen Sinn hat: Vergnügen zu bereiten.
Spielerische und vergnügliche Qualitäten haben, bei allem Ernst, auch die Festreden in diesem Buch. Schließlich wurde mit ihnen gefeiert und keine Andacht abgehalten. Dokumentiert sind hier Bestandteile öffentlicher Schauspiele, bei dem die Beteiligten, allesamt professionelle Schauspieler auf großen Bühnen des Lebens, erheblichen Bewährungsproben ausgesetzt waren. Denn es ist wahrlich nicht leicht, auf Reich-Ranicki, über den schon so unendlich viel geschrieben wurde und schon alles gesagt zu sein scheint, auch von ihm selbst, eine Lobrede zu halten. Wiederholungen sind da ganz unvermeidlich. Die Kunst der Lobenden wie die des Gelobten besteht darin, trotzdem nicht gegen das erste Gebot des Kritikers zu verstoßen, das da lautet: Du sollst nicht langweilen. Solche Festveranstaltungen haben etwas von Neuinszenierungen klassischer Dramen. Jeder kennt ihren Inhalt und wartet doch gespannt darauf, wie er dargeboten wird. Den Beteiligten gleichsam zuzusehen, wie sie Bekanntes neu variieren, kombinieren, ergänzen und den gegebenen Anlässen anpassen, mit eigenen Nuancen versehen und mit unterschiedlichem Temperament vortragen, sodass es in einem jeweils anderen, erhellenden Licht erscheint, ist ein spannendes Vergnügen. Alle Laudatoren charakterisieren mit ihren Reden nicht nur den Gelobten, sondern auch die eigene Person.
Als unübertrefflicher Meister der Wiederholung, Variation und Erfindung von Neuem präsentiert sich der Geehrte selbst, meist in vorher sorgfältig ausformulierter, gelegentlich in gänzlich frei gehaltener Rede, deren schriftliche Fassung immer noch etwas von dem leibhaftigen Auftritt erahnen lässt. „Wer Marcel Reich-Ranicki liest, hört ihn reden“, merkt einer der Laudatoren an. Man sieht ihn sogar.
So liest, hört und sieht man ihn auch in diesem Band – wie er den Ort und die Art der Ehrung aufgreift, um über das Theater in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus und über die Literaturszene Münchens zu erzählen oder über die Vorbehalte gegenüber der deutschen Sprache in Israel und die Bedeutung des Judentums für die deutsche Literatur nachzudenken. Und sogar in der Rolle des Gelobten und des Dankenden scheut sich Reich-Ranicki nicht, seinem Ruf als Provokateur zu entsprechen und den Namenspatronen der ihm verliehenen Preise, sei es Hölderlin oder Goethe, mit der für ihn typischen literaturkritischen Respektlosigkeit zu begegnen. „Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen.“ Anlässlich der Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises erinnerte er sich an seine erste Begegnung mit diesen Versen Goethes. „Schlechte Poesie“, befand er. „Die Strophe beginnt ja mit einer simplen Ermahnung und knüpft daran eine gänzlich absurde Feststellung. Denn es ist doch wirklich barer Unsinn, dass Güte und Hilfsbereitschaft den Menschen von allen Wesen unterscheiden, die wir kennen. Hilfreich und gut kann zur Not auch ein Hund sein. Was wirklich den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet, sei vielmehr – meinte ich – die Fähigkeit, zu sprechen und zu lachen und meinetwegen zu schreiben.“
Hinter solchen Sätzen steht gewiss auch bittere Erfahrung mit Eigenschaften des Menschen, die jeglicher Güte und Hilfsbereitschaft völlig entgegengesetzt sind. Und das Wissen des Literaturkritikers darüber, was er selbst den menschlichen Fähigkeiten des Sprechens, Lachens und Schreibens verdankt. Vor einem halben Jahrhundert, im Juli 1958, kehrte Marcel Reich-Ranicki für immer nach Deutschland zurück und hat seither die literarische Kultur dieses Landes maßgeblich geprägt und bereichert. Die hier gesammelten Reden zeigen dies.
Marburg, im Juli 2008 Thomas Anz
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Literaturangaben:
ANZ, THOMAS (Hrsg.): Die Literatur, eine Heimat. Reden über und von Marcel Reich-Ranicki. DVA Belletristik, München 2008. 240 S., 18,95 €.
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