DARMSTADT (BLK) - Reinhard Jirgl (57) ist der Träger des Georg-Büchner-Preises 2010. Der Berliner Schriftseller stellt Dinge mit Sprache an, die vielen gewöhnungsbedürftig erscheinen. Ein Satz aus seinem jüngsten Roman „Die Stille“ lautet beispielsweise: „?Hättest du=Anihrerstelle? nicht weinen müssen. Denn son Hochzeit's Tag gilt doch für 1 Frau als Der-Schönste-Tag=im-Le –“ Im Gespräch gibt Jirgl Erklärungen zu seinem Ziffern- und Zeichensystem, vergleicht eine Seite Papier mit einer Theaterbühne und äußert seine große Freude über die Auszeichnung mit dem renommiertesten Literaturpreis Deutschlands.
Was bedeutet Ihnen der Preis?
Jirgl: „Die Bedeutung ist immer bei jedem Preis zweigeteilt. Zum einen die materielle Seite: Gerade für jemanden, der von dem Verkauf seiner Bücher nicht leben kann, ist das natürlich eine enorme Unterstützung. Das Zweite - das Wesentliche - ist die ideelle Seite: Anhand dieses Preises kann ich erkennen, dass mit meinem Schreiben doch etwas in Ordnung sein muss, vielleicht auch gerade wegen meiner Eigenheiten.“
Sie sprechen die Eigenheiten an. Verschließen Sie sich dem großen Publikum?
Jirgl: „Ich verschließe mich nicht. Ich habe nur festgestellt, dass das große Publikum offenbar nicht willens ist, diese Sachen wahrzunehmen. Dass es da offenbar große Irritationen gibt. Ich hab' das einmal festgestellt anhand des Buches „Die Unvollendeten“ – das Buch über die Vertreibungen. Da haben sich viele Leser von dem Thema neugierig machen lassen, haben das gekauft und waren dann sehr irritiert darüber. Im Verlag gibt es Briefe und Anrufe, die beweisen, dass die Menschen mit meiner Methode nichts anzufangen wussten.“
Finden Sie Ihre Sprachkunst nicht schwer verständlich?
Jirgl: „Nein, der Schritt um das zu verstehen, ist relativ simpel. Ich möchte gegen die Legende der Schwierigkeit ein Wort sagen: Es ist nicht schwierig, es ist nur zeitaufwendig. Es ist einfach so, dass Sprache nicht nur ein Instrument ist, um Inhalte zu transportieren. Sprache selbst hat ja auch ein Material und einen Kunstwert. Sprache selbst hat auch eine Geschichte und wenn man die aufbricht, dann sieht man, woher die Buchstaben kommen, was in den Buchstaben stecken könnte - nämlich Körper- und Charaktersignale. Und das sind ja keine Erfindungen von mir. Aber das ist eben eine ungewöhnliche Manier.“
Und wie tragen Sie ihre Sprachkunst bei Lesungen vor?
Jirgl: „Das ist natürlich ein Problem. Das können Sie nicht transportieren. Diese Ziffern- und Zeichenebene, die können Sie einfach nicht laut machen, ohne irgendeinen Blödsinn zu veranstalten. Deswegen sind Lesungen für mich von dieser Seite her immer ein bisschen frustrierend. Also, ich les' die Texte ganz konventionell.“
In welcher Tradition sehen Sie sich?
Jirgl: „Ich suche eigentlich nicht nach Traditionen. Allzu oft hat man mir den Arno Schmidt angehängt. Aber das ist eine sehr oberflächliche Beobachtung. Ich würde mir im Übrigen nicht anmaßen, Schmidt auch nur im entferntesten das Wasser reichen zu können. Es ist einfach nur der Oberflächenreflex, weil der auch mit Ziffern, Zeichen und merkwürdigen Satzkonstruktionen optisch auf der Papierseite etwas gestaltet hat. Auf den zweiten Blick sehen Sie aber, dass das relativ wenig damit zu tun hat. Ich suche nach anderen Methoden, nach anderen Verfahren.“
Nach welchen?
Jirgl: „Es hat mit der Zeit, die im Text steckt, zu tun - also der Figurenzeit oder Handlungszeit - ähnlich wie der Schnitt beim Film. Und es hat mit den Charakter- und den physiologischen Signalen zu tun, die im Buchstaben, in Wortzusammenstellungen, Wortzerreißungen stecken. Es ist einfach die Vorstellung, dass auf einer Seite Papier wie auf einer Theaterbühne dreidimensionale Dinge stattfinden. Da sind Schauspieler und da sind Objekte und die muss ein Regisseur – in dem Fall ich, der Schriftsteller - arrangieren. Wenn man den Schritt einmal getan hat, dass man vom grafischen Zeichen des Buchstabens in die figürliche Ebene tritt, hat man schon viel gewonnen.“
Der Anruf der Akademie hat sie aber schon überrascht, oder nicht?
Jirgl: „Ich war völlig überrascht. In den letzten Jahren habe ich immer wieder von Leuten gehört: „Pass mal auf, du bist der nächste, der den Preis kriegt.“ Und ich habe immer gesagt: „Pass auf, mein Lieber, dieser Floh ist viel zu groß für meine kleinen Ohren, der passt da nicht rein.“ Das ist das schlimmste, was es gibt für einen Schriftsteller, auf einen Preis zu warten, den er nie kriegt. Das macht einen sauer. Und das wollte ich mir ersparen. Also habe ich den Preis soweit weggestellt, dass ich jetzt das Problem hab', da wieder ranzukommen, zu begreifen, dass ich ihn wirklich gekriegt hab'.“ (dpa/ton)
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