Von Ira Schaible
Maxim Gorki, Gerhard Schröder und Osama bin Laden: Sie alle tauchen in „Kokoschkins Reise“ auf, dem neuen Roman von Hans Joachim Schädlich. Gorki, Literaturnobelpreisträger Iwan Bunin und andere russische Schriftsteller erscheinen im Lebensumfeld der Hauptfigur Fjodor Kokoschkin. Ex-Kanzler Schröder, Top-Terrorist bin Laden und auch die Türkei sind dagegen bloß Themen der Tischgespräche auf der letzten Reise-Etappe des 95-Jährigen – einer Kreuzfahrt von Southampton nach New York. Der emeritierte Botanik-Professor aus Boston ist ein russischer Emigrant, der im Spätsommer 2005 die Orte seiner Kindheit und Jugend besucht.
Die Oktoberrevolution in St. Petersburg, der Beginn der NS-Diktatur in Berlin und der Prager Frühling: Kokoschkin hat all das erlebt und erzählt auf seiner dreiwöchigen Reise in die Vergangenheit seinem Begleiter davon, dem gut 20 Jahre jüngeren Tschechen Jakub Hlavácek. Die beiden kennen sich von einer früheren Reise Kokoschkins nach Prag 1968. Kurz vor der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings reiste der Gräser-Spezialist damals überstürzt ab: „Ich habe es im Urin: die Russen überfallen die Tschechoslowakei.“
Die Reise der beiden Männer beginnt in St. Petersburg, wo Kokoschkins Vater 1918 von den Bolschewiken ermordet wurde. Fjodor – etwa acht Jahre alt – flüchtet mit seiner Mutter ins ukrainische Odessa, und rund drei Jahre später nach Deutschland. Die beiden leben zunächst in Berlin, später im etwa 70 Kilometer entfernten Bad Saarow an einem See, in der Nähe von Gorki. Auch der 1935 geborene Autor Schädlich ging dort später zur Schule – wie auch in Templin in der Uckermark, wo Fjodor – des Deutschen noch immer nicht richtig mächtig - nach einem Jahr ohne Schule einen kostenlosen Platz in einem Internat bekommt.
Kokoschkins Mutter zieht Ende 1925 - immer im Dunstkreis der russischen Schriftsteller – von Berlin nach Paris. Fjodor sieht sie erst nach seiner Matura in ihrem Hutladen wieder, sechs Jahre später. Er kehrt rasch nach Berlin zurück, beginnt ein Botanikstudium und lebt mit Aline zusammen, der Tochter eines Sozialdemokraten. Bereits im Juni 1933 kehrt Kokoschkin Nazi-Deutschland den Rücken und geht nach Prag, wo er in einer „Gefühlsmischung aus Verzweiflung, Größenwahn und Erleuchtung“ den Kulturattaché der USA um ein Stipendium ersucht; 1934 reist Kokoschkin nach Boston und wird „Russisch-Amerikaner“.
Dem Rückblick auf die gewaltsamen politischen Ereignisse stellt Schädlich fünf Tage auf dem Luxusliner entgegen. Die Wirren, Entbehrungen und Widersprüche des Emigrantenlebens im Schatten der russischen Intelligenzia wechseln sich ab mit dem Müßiggang auf der „Queen Mary 2“ zwischen zahlreichen Mahlzeiten und meist seichten kulturellen Darbietungen. Dazu kommen Schilderungen der Reise der beiden alten Herren.
Schädlich verwebt diese drei Ebenen in seiner gewohnt schnörkellosen, klaren und präzisen Sprache in nur sechs Kapiteln zu einem spannenden und an keiner Stelle verwirrenden Ganzem. Er spiegelt in Kokoschkins lesenswerter Lebensgeschichte ein ganzes Jahrhundert – mit seiner Tragik und seiner Aufbruchstimmung.
Literaturangabe:
SCHÄDLICH, HANS JOACHIM: Kokoschkins Reise. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 189 S., 17,95 €.
Weblink: Rowohlt Verlag